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Ein Augenzeuge erinnert sich an die Unruhen in Ostdeutschland 1968 (Rückblick, 2003)

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Mein Freund Thomas Brasch hatte kurze Zeit nach der Biermann-Ausbürgerung ein längeres Gespräch mit Erich Honecker, bei dem es darum ging, ob auch er die DDR verlassen könne, verlassen solle. In diesem Gespräch sagte Erich Honecker, nachdem sie eine Weile diskutiert und Thomas Brasch von seinen DDR-Erfahrungen erzählt hatte, den bezeichnenden Satz, es ginge ihm, Honecker, doch genauso wie Thomas Brasch: Auch er habe sich den Sozialismus ganz anders vorgestellt – das Verständnis wäre also doch da gewesen. Nur: Es gab keine Möglichkeit der öffentlichen Debatte über diese Frage in der DDR, und es konnte sie in dieser DDR auch nicht geben.

Wer sich ein bißchen in der russischen Literatur auskennt und zum Beispiel »Die Dämonen« von Dostojewski gelesen hat, wird sich vielleicht eine Vorstellung von dieser kleinen provinziellen Welt machen können mit all ihrer erhabenen Lächerlichkeit, in der sich dieses Drama der Ost-68er abspielte. In Rußland hatte diese Gesellschaftsschicht einen Namen, das waren die höheren Sphären, und zu denen gehörten sie beide, die Vertreter der Macht und die Kritiker der Macht. In der DDR sprach man von den Bonzen, und wenn wir hier von den Ost-68ern reden, dann sprechen wir von Bonzen-Kindern, von den Söhnen und Töchtern der höheren DDR-Nomenklatura, dann sprechen wir von dieser eigenartigen DDR-Aristokratie, diesem sozialistischen Adel, den es gegeben hat. Es war unsere Existenz, die keinen Sinn zu haben schien. Was uns fehlte, das war eine Aufgabe, die den Ehrgeiz befriedigt hätte, der durch die Taten, durch das heroische Beispiel unserer Eltern geweckt worden war. Es war für uns, so überraschend dies auch klingen mag, in dieser DDR-Gesellschaft eigentlich gar kein Platz vorgesehen – jedenfalls nicht als Kinder unserer Eltern, und insoweit stellt sich die Frage, ob der Vergleich mit einer Aristokratie stimmig ist. Man könnte dies nun als etwas Positives werten: daß diese Leute, die die DDR beherrschten, nicht darauf hin arbeiteten, ihren Kindern, ihren direkten leiblichen Nachfahren dereinst den Laden, d. h. die Macht, zu übergeben. Trotzdem würde ich sagen, daß sich darin, daß es ihnen nicht gelang, diese Gruppe, zu der ich gehörte, in das System zu integrieren, schon das Ende des Sozialismus abzeichnete.

68, das war für uns ein Aufbruch. Die Sozialismus-Frage stellte sich neu, und wir suchten nach neuen Wegen, wie man als Sozialist in der DDR politisch aktiv sein konnte, ohne daß dies von der Partei gesteuert wurde. 68 bedeutete aber auch das ganz schnelle Ende all dieser Versuche und Hoffnungen. Das Ende wird durch ein uns allen geläufiges Datum markiert, durch den 21. August, den Tag des Einmarsches in die ČSSR. Wie auch immer man die Prager Entwicklung im einzelnen gesehen haben mochte – und dies hing natürlich auch sehr stark von den Informationen ab, die einem zugänglich waren –: im Moment des Einmarsches war klar, daß hier etwas Entscheidendes geschehen, daß hier eine Chance für den Sozialismus zerstört worden war. Wie sich später herausstellen sollte: die letzte, die er gehabt hat. Aber dies mußte in dem Moment noch nicht klar sein.

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Quelle: Florian Havemann, „68er Ost“ [Vortrag gehalten am 29. August 2003 in der Rosa-Luxemburg-Stiftung am Berliner Franz-Mehring-Platz]; abgedruckt in UTOPIE kreativ, H. 164 (Juni 2004), S. 544ff.

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