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Ein Augenzeuge erinnert sich an die Unruhen in Ostdeutschland 1968 (Rückblick, 2003)

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Die faschistische Vergangenheit bedeutete für uns etwas anderes. Den Vorwurf, den die meisten 68er im Westen zu machen hatten – daß ihre Eltern in der Nazizeit zumindest Mitläufer, wenn nicht mehr gewesen waren – den hatten wir in unserer Gruppe nicht zu machen. Unsere Mütter und Väter waren entweder im aktiven Widerstand gegen die Nazis gewesen oder hatten die Jahre der Naziherrschaft im Exil, in der Emigration verbracht. Die Frage, die sich für uns stellte, war die, ob die Entwicklung der DDR-Gesellschaft nicht von uns verlangte, dem heroischen Beispiel unserer Eltern zu folgen, was bedeutete: konspirativ zu handeln, selbst Widerstand gegen diese Entwicklung zu leisten, die wir als eine antisozialistische ansahen.

Auch die Zuspitzung, die es bei einer solchen Bewegung immer gibt, hatte für uns einen ganz anderen Charakter: Terror, wie es ihn im Westen von seiten der Linken gegeben hat, war für uns völlig ausgeschlossen, wir mußten (und konnten uns auch) mit nur symbolischen Akten begnügen.

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Auch wir, die wir in der DDR groß geworden waren, die wir also nicht an den heroischen Kämpfen beteiligt gewesen waren, die der Gründung dieses Staates vorausgingen, die wir auch nicht zur Gründergeneration dieser DDR gehörten, sahen vor uns ein Leben in einem Staat, der zunehmend von einer Bürokratie geprägt war, die den Bewegungsspielraum aller – nicht nur der ihr direkt Unterworfenen, sondern auch der politischen Akteure – immer mehr einengte. Wir sahen ein Leben vor uns, das von der Technik, von technischen Notwendigkeiten bestimmt sein würde, und daß uns dies nicht behagte, nicht behagen konnte, jedenfalls keinerlei Begeisterung mehr in uns wecken konnte – das weist vielleicht schon darauf hin, daß diese Epoche des Fortschrittsglaubens, in der wir groß geworden waren, zu Ende ging. Ich erinnere nur an das Buch, das alle DDR-Jugendlichen zu ihrer Jugendweihe bekamen, erinnere an ‚Weltall, Erde, Mensch’, wo uns in Bildern, die man von heute aus nur belächeln kann, für alle Probleme der Menschheit eine technische Lösung vorgestellt wurde. ‚Sowjetmacht plus Elektrifizierung gleich Kommunismus’ – das war eine Losung, die vielleicht auch uns begeistert hätte, aber eine elektrifizierte DDR, bei der nur nach einem feststehenden Plan irgendwelche Schalter umzustellen waren, das war so etwas natürlich nicht, und auch die Phase, die Leute wie Volker Braun und Heiner Müller noch in ihren Bann zu ziehen vermochte, die Phase Schwarze Pumpe, Stalinstadt, Eisenhüttenstadt, wo dem Bau von Industrieanlagen etwas Heroisches anhaftete, war bereits vorbei. Auch wenn wir anders als unsere Altersgenossen im Westen noch kein Leben in materiellem Überfluß vor uns sehen konnten, sahen wir nicht, daß diese Gesellschaft, in die wir hinein geboren, in der wir groß geworden waren, ein anderes Ziel denn das des bloßen materiellen Wohlstands hatte. Auch vor uns lag eine geistige Wüste, denn das, was uns als Sozialismus hingestellt wurde, das war nichts, was uns als junge Sozialisten in irgendeiner Weise begeistern oder motivieren konnte.

Diese kleinbürgerlich geordnete Wüste aber, der alles Weite und Großartige fehlte, die sich da um uns immer mehr ausbreitete, sie lebte noch, lebte in uns, die wir die Frage stellten, ob denn dies etwa der Sozialismus sei – der, den wir uns vorgestellt hatten, war es jedenfalls nicht, und wir konnten uns auch nicht vorstellen, daß die Begründer der sozialistischen Bewegung, daß Marx, Engels und Lenin einen solchen geisttötenden Sozialismus gemeint haben konnten, der die Produktivität der Menschen mehr einzuengen schien, als daß er sie befreite. Und, um noch einmal Kissingers Formulierung aufzugreifen: Wir konnten auch nicht davon ausgehen, daß unsere Oberen die metaphysische Verzweiflung verstehen oder wenigstens nachvollziehen konnten, die von uns Besitz ergriffen hatte – diese Verzweiflung, die zwar von dem bißchen Sozialismus-Erfahrung, das in der DDR nur möglich war, ausging, aber zugleich doch weit darüber hinaus reichte.

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