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Ein Augenzeuge erinnert sich an die Unruhen in Ostdeutschland 1968 (Rückblick, 2003)

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Bemerkenswert ist, daß diese Gruppe keine Politiker im engeren Sinn hervorgebracht hat. Dies war natürlich sehr stark den Umständen geschuldet, die eine freie politische Tätigkeit nicht zuließen – der einzige, der hier zu nennen wäre, das ist Gerd Poppe, bei uns damals Popow genannt, der dann in der Wende eine Rolle spielte und später Menschenrechtsbeauftragter im Außenministerium des wiedervereinigten Deutschlands wurde. Dies war aber nicht nur den politischen Umständen geschuldet, sondern auch unserem Verständnis dessen, was 68 bedeutet. Wenn man für das westliche 68 feststellen kann, daß im nachhinein vor allem dasjenige Wirkung gezeitigt hat, was man den kulturrevolutionären Teil dieser Bewegung nennen kann, so war gerade dies für uns immer die Hauptsache, und zwar von Anfang an. Wir verfolgten, so gut uns dies möglich war, die Entwicklung des westlichen 68, der Stundentenbewegung. Es gab auch direkte persönliche Kontakte – so waren Leute wie Langhans, Teufel und Kunzelmann von der Kommune 1 bei unseren Partys, später dann auch Rudi Dutschke. Für uns waren diese Leute, mit denen wir uns verbunden fühlten, aber nur Teil einer Bewegung, die viel mehr einschloß. Bob Dylan und Jimi Hendrix waren da mindestens ebenso wichtig, wenn nicht sogar wichtiger. Diese Musik stellte eine Verbindung her, die bis in die Provinz reichte, zu einer viel größeren Gruppe, zu den sogenannten Beat-Fans, die damals vom Staat verfolgt wurden, und unter denen es wohl die damals einzige, wirklich funktionierende illegale Organisation gab: den Plattenclub.

Ich habe mich oft gefragt, ob unser Ost-68 nur als Ausläufer, als dépendance des westlichen 68 zu gelten hat, ich habe mich auch gefragt, ob unser 68 nur zufällig mit dem westlichen 68 zusammenfiel und wir unser eigenes, originäres 68 vollzogen haben, das mit dem westlichen nicht viel zu tun hatte, oder ob hier wirklich gemeinsame Anliegen existierten, parallel wirkende Ursachen und Motive.

Die Bedingungen unseres Handelns waren völlig andere: Wenn ich dabei nur an die Flugblätter denke, von denen mich vielleicht 40 – und zwar noch nicht mal verteilte! – wegen staatsfeindlicher Hetze ins Gefängnis brachten, und wenn ich mich dann an den Kulturschock erinnere, den ich erlitt, als ich zum ersten Mal in West-Berlin in die Mensa der TU ging und dort auf den Tischen hunderte der verschiedensten Flugblätter rumliegen sah, die niemand las und die niemand zu interessieren schienen.

Das Medium unseres Wirkens war ein anderes: Es gab keinen Club Voltaire, keine Zeitschriften wie das Kursbuch oder das von den Haugs herausgegebene Argument, noch nicht einmal unseren eigenen Samisdat, der uns bei der Selbstverständigung hätte helfen können. Schon allein einen solchen zu betreiben, hätte einen für mehrere Jahre ins Gefängnis bringen können.

Auch waren die Anlässe, politisch zu werden, ganz andere: Waren es im Westen der Krieg der Amerikaner in Vietnam, die Notstandsgesetze oder eine Hochschulpolitik, die Protest hervorrufen mußte, so gab es für jeden von uns im Osten diese vielen kleinen Anlässe, diese Zumutungen, irgendwelchen Dingen zustimmen zu müssen, mit denen kein vernünftiger Mensch einverstanden sein konnte, so daß es dabei erstmal nicht eigentlich um den Unterschied politischer Auffassungen ging, sondern darum, ob man die eigene moralische Integrität wahren und den Preis dafür zu zahlen bereit war, den dies kostete.

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