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„Neue Linke” (4.-5. Oktober 1962)

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Daß der SDS aufgrund seiner Widerständigkeit schon bald zum Initiator und Interpreten einer studentischen Revolte werden sollte, konnten sich die Spalter damals noch nicht vorstellen. Ihr Ziel war im Grunde eine sozialdemokratische, parteikonforme Arbeitsgemeinschaft an der Universität. Radikale Nonkonformisten waren in der SPD Anfang der 60er Jahre nicht gefragt. Dennoch erklärt der im SPD-Parteivorstand damals vorherrschende Antiintellektualismus nicht die Taktik der offenen üblen Nachrede und Verdächtigungen, wie sie auf der Bonner SHB-Pressekonferenz gegen den SDS in Umlauf gesetzt wurden. So behauptete der gerade erst ernannte neue SHB-Bundesvorstand, im SDS gebe es Leute, ‚die direkte Beziehungen zur SED’ unterhielten. Insbesondere in Berlin existiere ein ‚enger Kontakt’ zwischen einigen SDS-Gruppen und den ‚mitteldeutschen Kommunisten’. Der Berliner SDS-Landesverband habe darüber hinaus häufig Aktionen unterstützt, die ‚vorher in Ost-Berlin’ angelaufen seien. Darüber hinaus sprachen sich die SHB-Funktionäre gegen eine Fortsetzung von ‚aufwendigen Kongressen einflußloser Leute über große Politik’ aus. Der SHB werde – so die ‚Frankfurter Allgemeine Zeitung’ – kein ‚Wanderer zwischen zwei Welten’ sein, sondern ‚entschieden für die Sache des freien Westens’ arbeiten. Ferner bejahe der provisorische SHB-Bundesvorstand ausdrücklich die ‚Landesverteidigung bei gleichzeitiger Sicherung des Rechts auf Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen’.

Selten haben sich eine mehrheitssozialdemokratische Führung – und eine bürgerlich-konservative Presse – über die Grundstimmung in der studentischen Linken so sehr getäuscht wie zu Beginn der 60er Jahre. Obgleich führende SPD-Funktionäre wie Fritz Erler, Waldemar von Knoeringen und Willy Brandt gegen Ende der 20er Jahre selbst zum rebellierenden Teil der Arbeiterjugend gehört hatten, forderten sie vom SDS nun eine bedingungslose Unterordnung unter die – parteiintern nie ausdiskutierte – langfristige Bündnispolitik der SPD. Ein Dialog über Ziele, Strategien und Taktik blieb tabu.

Auf der SHB-Pressekonferenz unterstellte Maruhn – wie vorher schon Wehner in einem Interview – dem SDS, fellowtraveller der Kommunisten zu sein. Wehner wie Maruhn redeten freilich selbst in der entfremdeten Sprache der stalinistischen Bürokratie über den angeblich unterwanderten und von außen gesteuerten SDS. Die kommenden Jahre sollten indessen zeigen, daß von einer Unterwanderung des SDS durch dogmatische Parteikommunisten überhaupt keine Rede sein konnte. Statt dessen entstand im SDS ein Fokus für neue Aktionsformen und theoretische Kommunikationszusammenhänge. Es gelang dem SDS vorübergehend, die Politik in die Alltagsverhältnisse der Studenten und Jugendlichen zu übersetzen. So entwickelte sich Mitte der 60er Jahre in großen Teilen der bundesrepublikanischen Jugend eine alternative Lebensform, die von der Faszination einer autonomen Politik jenseits der klassischen Großorganisationen der Arbeiterbewegung und von einer kulturellen und politischen Widerständigkeit geprägt war. Doch die rebellische Subjektivität der antiautoritären Studenten- und Jugendbewegung hatte allerdings mit kommunistischer Parteidisziplin, stalinistischer Willkür oder sowjetischen Sicherheits- und Machtinteressen nichts zu tun. Erst durch die Gründung der maoistischen Kleinstparteien Anfang der 70er Jahre wurde dieser antiautoritäre Konsens von innen heraus aufgekündigt. Soziologisch gesehen bedeutete der Rückzug in eine ausgeliehene proletarische Disziplin die Rückkehr in gewohnte kleinbürgerliche Disziplin- und Ordnungsvorstellungen. Da bis heute eine selbstkritische Darstellung des deutschen Maoismus fehlt, müßte das Thema nun endlich von außen erforscht werden.


Quelle: Sigward Lönnendonker und Tilman Fichter, Kleine Geschichte des SDS. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund von 1946 bis zur Selbstauflösung. Berlin, 1977, S. 75-78.

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