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Sozialistische Bruderhilfe und der Sturz Ulbrichts (21. Januar 1971)

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Angesichts der Verantwortung unserer Partei in der gegenwärtigen inneren und internationalen Situation und auch angesichts der Erfahrungen, daß sich trotz vieler Diskussionen und Bemühungen die mit der Haltung des Genossen Walter Ulbricht verbundenen Belastungen nicht mindern, sondern im Gegenteil erhöhen, halten wir es für unsere internationalistische Pflicht das Politbüro des ZK der KPdSU über diese uns entstandene Lage zu informieren und zu bitten, uns bei der Lösung dieser komplizierten Frage zu helfen.

Wir sind der Ansicht, daß eine solche Lösung darin bestehen könnte, daß die Funktion des Ersten Sekretärs des Zentralkomitees der SED sehr bald von der des Vorsitzenden des Staatsrates der DDR getrennt wird und Genosse Walter Ulbricht nur die Funktion des Vorsitzenden des Staatsrates der DDR ausübt. Dabei wäre es gleichzeitig geboten, die bisher übertriebenen und künstlich ausgeweiteten Befugnisse des Staatsrates zu beschränken. Die Tätigkeit des Staatsrates, die heute oft dazu benutzt wird, um ohne das Politbüro Entscheidungen zu treffen, wäre der Kontrolle des Politbüros zu unterstellen. Der Staatsrat müßte seine Aktivitäten auf den Gebieten einstellen, die voll zum Verantwortungsbereich der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik gehören. Bei unseren Erwägungen können wir auch nicht daran vorbeigehen, daß nach offiziellem ärztlichem Befund die gegenwärtige arbeitsmäßige Belastung des Genossen Walter Ulbricht unverantwortlich ist. Es wurde ihm von den ihn betreuenden Ärzten dringend und wiederholt empfohlen, täglich nur vier Stunden zu arbeiten, sich mittwochs, sonnabends und sonntags zu erholen und nur einmal in der Woche abends für zwei Stunden an Veranstaltungen teilzunehmen. Zu unserer Sorge hält sich Genosse Walter Ulbricht nicht an diese und andere ärztliche Ratschläge. Dadurch kann sowohl für Genosse Walter Ulbricht persönlich als auch für Partei und Staat eine komplizierte Lage entstehen.

Wir lassen uns bei unseren Vorschlägen auch davon leiten, daß Genosse Walter Ulbricht möglichst lange für unsere Sache erhalten bleibt. Im Interesse unserer Partei und in seinem eigenen Interesse ist eine möglichst baldige Lösung wünschenswert, da sonst der Schaden für unsere Partei, der dann schwer wieder gutzumachen ist, immer größer wird, aber auch eine offene Austragung der Differenzen vor der Partei und die Zurückweisung seiner falschen Auffassungen immer schwieriger zu verhindern ist.

Deshalb wäre es sehr wichtig und für uns eine unschätzbare Hilfe, wenn Genosse Leonid Iljitsch Breshnew in den nächsten Tagen mit Genossen Walter Ulbricht ein Gespräch führt, in dessen Ergebnis Genosse Walter Ulbricht von sich aus das Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands ersucht, ihn auf Grund seines hohen Alters und seines Gesundheitszustandes von der Funktion des Ersten Sekretärs des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands zu entbinden. Diese Frage sollte möglichst bald gelöst werden, das heißt, unbedingt noch vor dem VIII. Parteitag der SED.

Indem wir Ihnen diese große Bitte unterbreiten, gehen wir davon aus, daß immer zwischen unseren Parteien und Staaten, seit der Zeit Thälmanns und Piecks eine gute, feste, unverbrüchliche Kampfbereitschaft bestand und auch heute besteht, die sich auf den Marxismus-Leninismus gründet und daß die Lösung der uns außerordentlich bewegenden Frage dazu beitragen wird, all das Große und Gute, das unsere Beziehungen bestimmt, weiter zu vertiefen. Wir erwarten Ihre Antwort und Hilfe.

Mit kommunistischem Gruß
Berlin, den 21. Januar 1971

gez. H. Axen, G. Grüneberg, K. Hager, E. Honecker, G. Mittag, H. Sindermann, W. Stoph, P. Verner, E. Mückenberger, H. Warnke, W. Jarowinsky, W. Lamberz, G. Kleiber



Quelle: Mitglieder des SED-Politbüros an das KPdSU-Politbüro und Generalsekretär L.I. Breshnew, 21. Januar 1971, SAPMO-Bundesarchiv, DY 30/J IV 2/2A/3196; abgedruckt in Andreas Herbst et al., Hg., Die SED. Geschichte, Organisation, Politik. Ein Handbuch. Berlin, 1997, S. 719-21.

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