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Vom Kino zum Fernsehen in der Bundesrepublik (8. Mai 1965)

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Der historische Ablauf spielt dabei auch eine Rolle. Ein kluger Spötter hat einmal gemeint, wenn die Eisenbahn erst nach dem Auto erfunden worden wäre, führe heute alles Eisenbahn. Das Kino hat das Pech der älteren Schwester, die gegenüber dem nachgeborenen Nesthäkchen vernachlässigt wird. Aber der Glanz der Wunderkinder beginnt zu bleichen, sowie sie älter werden. Es gilt als eine gesicherte amerikanische Erfahrung, daß das Interesse am Fernsehen etwa fünf Jahre nach der Erstanschaffung des Geräts spürbar abnimmt. Wenn nicht alles täuscht, ist die Zahl der „Fünfender“, die in den Fernsehsielen ergraut sind und dessen allmählich müde werden, im Wachsen. Auch das – meist allzu große – Interesse der Kinder am Fernsehen differenziert sich. Nachgeborene Kinder, die bei ihrem Erwachen zu Verstand bereits ein Fernsehgerät in der häuslichen Gemeinschaft vorfinden, sind viel weniger fernsehversessen als die älteren Geschwister, die erst eine Zeitlang an den Fernsehschirmen der Nachbarn kiebitzen mußten, ehe in der eigenen Familie „endlich auch“ ein Fernsehgerät angeschafft wurde.

In einem Zeitalter ohne häusliche Hilfen hat das Fernsehen weitere Chancen. Großmütter wohnen zu weit weg oder leben zu sehr ihr eigenes Leben, um bei den Enkeln das Haus hüten zu wollen. Dienstboten sind nur noch für Millionäre erschwinglich; selbst Studenten als Babysitter sind teuer. Viele Ehepaare scheuen die Kosten und motten sich in ihrer Wohnung ein, bis die Kinder groß sind. Da ist das Fernsehen ein Trost: man ist mittendrin im Leben und vermißt Theater, Kino, Konzert, Geselligkeit unter Freunden und Bekannten weniger, als dies sonst der Fall wäre. Es ist nicht zu bestreiten, daß auch unabhängig von dem Babysitter-Problem das Fernsehen eine Versenkung in der Familie begünstigt. Alexis de Tocqueville hat schon vor über hundert Jahren gemeint, Demokratie und Wohlstand führten dazu, daß niemand mehr auf den anderen angewiesen sei, das Band menschlicher Zuneigung außerhalb der Familie werde schwächer. Das Fernsehen fördert diese intrafamiliäre Konzentration außerordentlich. Auch Ehepartner, die sich nur noch wenig zu sagen haben, empfinden kaum eine Leere, wenn die Flimmerkiste läuft.

Allmählich kommt jedoch wieder das Sehnen nach Gedankenaustausch mit anderen, der Wunsch nach Geselligkeit guter, alter, hausbackener Art. So schön es am Anfang war, die Welt im Haus zu haben, so wenig schön ist es auf die Dauer, ewig zu Hause zu sein. Die Mainzer Fastnachtssendungen werden zwar traditionsgemäß im größeren Freundeskreis genossen, aber man besucht sich doch keineswegs in dem Maße zum gemeinsamen Fernsehen, wie man früher mit befreundeten Ehepaaren ins Kino ging und hinterher sich noch bei Bier oder Wein zusammensetzte. Wollen wir nicht mal wieder ins Kino gehen? Diese Frage taucht wieder häufiger auf. Ein bißchen schwingt auch eine gewisse Traurigkeit mit: So wie man früher das Kino genossen hatte, erfreut sich ein „Fünfender“ denn nun doch nicht mehr seines Bildschirms. Professor Dolvifat hat die Faszination des Kinos unter dem Stichwort „Entrückung“ rubriziert, und dieses Wort trifft hervorragend den Grad der Anteilnahme am Geschehen auf der Leinwand, das in den halbdunklen Parkettreihen der Filmtheater viel eher zu erzielen ist als zu Hause, wo man auch vor Störungen nie sicher ist.

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Quelle: Jürgen Eick, „Zwischen Kino und Fernsehen. Wandlungen im bundesrepublikanischen Feierabendverhalten“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8. Mai 1965.

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