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Staatlich kontrollierter Urlaub in Ostdeutschland (23. Mai 1963)

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Wer keinen Ferienscheck erwischt, kann sich beim staatlichen „Deutschen Reisebüro" (DER) um eine Urlaubsreise bemühen. Die DER-Preise liegen etwa so hoch wie die Preise für Pauschalreisen im Westen. Allerdings wird auch hier keineswegs immer „westliches Niveau“ geboten. Meist werden die Urlauber in Privatzimmern untergebracht. Sie können auf Gutschein in einem nahegelegenen HO-Restaurant essen. Auch das DER leidet an dem großen Unterkunftsmangel. In den letzten Jahren wurden in Mitteldeutschland so gut wie keine Hotels und Pensionen gebaut. Deshalb kann das DER kaum ein Drittel der Nachfragen befriedigen.

Urlaubsreisen auf eigene Faust in die sowjetzonalen Erholungsgebiete sind unmöglich. Sämtliche Hotels, Gasthäuser, Pensionen, Heime und Privatzimmer sind vom FDGB oder vom DER beschlagnahmt. Die Bewohner der Erholungsgebiete dürfen nur noch Verwandte ersten Grades aufnehmen. Einige Bauern an der Ostseeküste haben Hühnerställe und Scheunen provisorisch als Schlafstellen hergerichtet, um Sommergäste aufnehmen zu können und sich so einen kleinen Nebensverdienst zu verschaffen. Anfang dieses Jahres wurden auch diese selbst erstellten Unterkünfte vom DER „erfasst“. Seit dem Mauerbau werden vom FDGB und DER keine Reisen ins westliche oder neutrale Ausland mehr organisiert. Nur Gruppenreisen in die Ostblockstaaten sind möglich. Die beiden Urlauberschiffe „Völkerfreundschaft“ und „Fritz Heckert“ dürfen keine afrikanischen oder skandinavischen Häfen mehr anlaufen wie früher. Sie kreuzen den Sommer über im Schwarzen Meer. Alle zwei Wochen bringen Flugzeuge der östlichen Lufthansa eine Urlauberablösung nach Constanza. Die meisten Auslandsreisen werden über die Betriebe ausgegeben. Die Intelligenz wird bevorzugt. 1962 sind, wie der SED-Chefpropagandist Eisler kürzlich mitteilte, 265 000 der mehr als 17 Millionen Sowjetzonen-Einwohner in die Ostblockländer, vor allem in die Tschechoslowakei, gereist. Davon waren nur 30 000 private Ferienreisende.

In dieser leidigen Situation bleibt vielen Erholungsuchenden nur ein Ausweg: das Zelten. Aber auch dabei sind die Möglichkeiten begrenzt. Fast alle Campingfreunde wollen an der Ostseeküste ihr Quartier aufschlagen. Dort gibt es 271 000 Plätze in 61 Zeltstädten, von denen 60 Prozent für Betriebs- und Jugendgruppen reserviert sind. Der zentralen Zeltplatzvermittlung in Stralsund lagen bereits im April 1,5 Millionen Anträge vor. Viele Campingfreunde werden also ihre Pläne ändern müssen. Denn das freie Zelten ist an der Küste verboten. Der mitteldeutsche Urlauber darf dort nur unter Aufsicht weilen. Er könnte ja sonst versuchen, über die Ostsee in jene Gebiete zu gelangen, in denen es leichter ist, eine Urlaubsreise zu machen



Quelle: „Alle wollen an die Ostsee reisen“, Tagesspiegel, 23. Mai 1963.

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