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Friedrich Meinecke, Die deutsche Katastrophe: Betrachtungen und Erinnerungen (1946)

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Diese Worte richten wie mit einem Scheinwerfer nacheinander ihr Licht sowohl nach rückwärts wie nach vorwärts. Wir stehen vor dem Hauptwendepunkte in der Entwicklung des deutschen Menschentums. Der Mensch der Goethezeit war der Mensch der freien Individualität und zugleich der humane Mensch gewesen, der gegenüber der Gemeinschaft die Pflicht „edel, hilfreich und gut" zu sein, anerkannte und übte. Er lebte und entwickelte sich weiter zu den Synthesen zuerst des klassischen Liberalismus, dann des nationalen Sozialismus Naumannscher Prägung, nur immer stärker legiert mit sozialen Massenbedürfnissen und politischen Machtbedürfnissen, d. h. also immer straffer und konkreter verbunden mit der ihn umgebenden Gemeinschaft von Volk und Staat. Noch einmal glühte dann etwas von dem alten freien Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft wieder auf in der Romantik der Augusttage. Sollte der „humane" Mensch, der darin sich noch einmal bezeugte, fortan ganz zum Absterben verurteilt sein durch alle die Mächte, die den Menschen mehr in Massen zusammendrängten? Wir behalten die bange Frage im Sinne. Sie kann erst, soweit überhaupt möglich, am Schlusse ihre Antwort finden.

Schon im Jahre 1915 war es zu spüren, daß die Augustsynthese geistiger und sozialer Kräfte nicht mehr lange dauern würde. Von der rechten wie von der linken Seite her wurde sie gleichzeitig abgebröckelt. Die Versuche von der äußersten Linken her, die sich an den Namen des jüngeren Liebknecht knüpfen, gehören in die Geschichte des werdenden Kommunismus in Deutschland und würden, wenn der deutsche Mensch etwa in Zukunft von diesem her seine Prägung erhalten würde, historisch von Bedeutung werden. Die Vorgänge auf dem rechten Flügel der deutschen Welt die uns jetzt beschäftigen müssen, wurden aber dadurch damals noch nicht berührt.

Der Kampf um die Kriegsziele entbrannte hier. Es kam für die Zukunft Deutschlands alles darauf an, aus der lebensgefährlichen Lage wieder herauszukommen, in die man durch die unbedachte Politik der Vorkriegszeit geraten war. Zwei der größten Weltmächte, Rußland und England, hatte man sich gleichzeitig zu Feinden gemacht. [ . . . ]



Quelle: Friedrich Meinecke, Die deutsche Katastrophe: Betrachtungen und Erinnerungen (1946). 3. Auflage. Weisbaden, 1947, S. 43-45.

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