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Wie Soldaten das Leben im Krieg beschreiben II: Sophus Lange (1914-1915)

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Schützengraben bei Moulin, 24. April 1915.
Wir leiden beide gleich tief unter der gleichen Armut und Entbehrung: man gönnt uns nicht die Nuancen des Krieges, die wir uns wünschen; von der gewaltigen Maschinerie des Krieges hält man uns fern, Dich ganz, mich halb. Wir möchten große Hebel gezogen, schwere Kolben stampfen sehen, möchten Maschinisten erster Klasse sein, und ich bin nur einer zweiter Klasse, Du gar dritter oder vierter. Du könntest mir den Vorwurf unberechtigter Unzufriedenheit machen und könntest sagen, hier bei mir wäre die gewaltige Maschine gewaltig im Gange. Gewiß, die Maschine läuft hier wild und großartig, aber sie ist nur ein Teil des großen, ganzen Betriebs, und diesem Teil schaue ich nun über sechs Monate täglich und stündlich zu. Ich kenne ihn in seinen Einzelheiten so genau, daß ich fast alles, was ich an ihm sehe und höre, nicht mehr erlebe, sondern nur zur Kenntnis nehme. Mir ist hier das Feldsoldatentum allmählich ebenso alltäglich und grau geworden wie Dir das Garnisonsoldatentum.

Aber man wäre doch ein jämmerlicher Kerl, wenn man sich nicht endlich aus dem Mißmut und dem Gähnen herausreißen könnte, wenn man den äußerlichsten Objekten, der äußerlichsten Staffage erlaubte, einem die Lebensfreudigkeit zu zerstören in einer Zeit, wo allein schon der Gedanke, in dieser leben zu dürfen, jeden jauchzen lassen muß. Es gibt noch so unendlich viel zu verarbeiten, zu lernen und zu fühlen, um des großen Krieges würdig zu sein: Läßt man uns nicht genug Einblick eignen Auges in den Krieg, so kann uns doch keiner verwehren, eignen Auges hineinzuschauen in das Licht des Grals, um den der Krieg geführt wird. Verkehren wir mit Menschen, mehr noch, weil es leichter ist, mit Bücher und Bildern, allein unter dem Gesichtspunkt, das Deutschtum kennen und unbeschreiblich lieben zu lernen! Vergleichen wir die einzelnen Kulturen der miteinander ringenden Völker und forschen wir nach, ob „Deutsch“ tatsächlich das Wertvollste und vor allem von der Gottheit Gewollte auf der Welt ist — ach, bisher haben wir das doch mehr geglaubt als gewußt und gefühlt! Wir wollen kräftig lesen! — Das Milieu läßt es nicht zu? Das Milien soll es zulassen, zum Donnerwetter! Du mußt doch sicherlich der Herr bleiben können über die tückische Unwelt. Du kannst doch oft am Abend und am Sonntag eine kleine deutsche Stube aufsuchen. bei Deinen Großeltern oder gar zu Hause in einem Studiergiebel mit den Frühlingsbäumen davor. Und Du kannst Dir dann da so reiche und schöne Stunden auferbauen, daß die ganze graue Woche davon Zehrung hat. Du hast Bibliotheken da und Kunstläden und einen Tisch, wo Du Deine Bücher und Bilder dann ausbreiten kannst. Du kannst Dir Dürer und die Italiener holen und ihre Madonnen geruhsam vergleichen. Du kannst das „Snobsbuch“ von Thackeray, Daudets „Tartarin von Tarascon“ und Wilhelm Raabes Erzählungen nebeneinanderlegen und hast vor Dir Englisch, Französisch und Deutsch. Du kannst in vollen Zügen aus immer wieder gefüllten Pokalen das Deutsche schlürfen und so eine ungeheure Sehnsucht in Dir danach entfachen, nach dem Kriege Deinen Beruf allein darin zu finden, ein Verkündiger des Deutschtums zu sein.

Und bei Dir hat diese Tätigkeit auch den realen Zweck: Du weißt ziemlich bestimmt, daß Du nicht abgeknipst wirst. Du kannst doch nur Trost darin finden, all die Kräfte, die jetzt in Dir brachliegen müssen, weil man Dich in die Heimat verbannt, zehnmal kräftiger für das Deutschtum nachher im Frieden einzusetzen als ein Feldgrauer, um ihn in seinen Leistungen einzuholen. Ach, hätte ich auch Gelegenheit, so viel zu arbeiten und so gut, daß ich im Gewissen und Fühlen ein wahrhast begeisterter Deutscher werde. Denn nur das Wissen bringt das Gefühl. Aber was soll ich hier anfangen in meinem engen, niedrigen Unterstand, wo ich mit Maurerlehrlingen und anderen wenig verwandten, gutmütigen, aber herzlich wenig kultivierten Menschen so eng zusammenliege, daß wir uns gegenseitig den Schützengrabenstaub von den Kleidern scheuern. Ich kann hier nur dann und wann einen kleinen, hastigen Schluck aus den deutschen Quellen nehmen. Aber trotzdem will ich das Leben meistern, daß es leuchtend werde.

Bald ist der erste Mai! Denke an mich am ersten Mai. Nie ist der Mai so gefeiert worden wie dann von mir. Mit ihm soll der Mai meines Lebens beginnen, eines Lebens der Ganzheit, der Schönheit und Kraft! Nimm am ersten Mai, morgens, wenn der Tag erwacht, ein Glas Wein und trinke auf meine und Deine, auf unsere maienmächtige Zukunft. Ich werde es auch tun!



Quelle: Sophus Lange, in Philipp Witkop, Hg., Kriegsbriefe gefallener Studenten. München, 1928, S. 201-04.

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