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England und die deutsche Flotte: Alfred von Tirpitz blickt zurück auf das Flottenwettrüsten (1920)

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Bei diesen zuerst durch private Unterhändler gepflogenen und von englischer Seite mehrfach stark verschleppten Unterhandlungen gewann ich je länger, desto bestimmter den Eindruck, daß es der englischen Regierung mit einer wirklichen Flottenverständigung nicht ernst war, sondern daß es ihr nur darauf ankam, unser Auswärtiges Amt immer tiefer in die Legende einzuwickeln, daß die deutsche Flotte an allem schuld und ohne sie den Deutschen das Paradies auf Erden sicher wäre. Sie arbeitete hierin mit unleugbarem Geschick, wie jeder bezeugen wird, der die Denkungsart unseres damaligen Auswärtigen Amtes und die Verkennung der politischen Psyche Englands von seiten des Kanzlers erfahren hat. Eine Hauptsäule der Anschauung, daß einer deutschen Weltpolitik Arm in Arm mit England nur die entsetzliche deutsche Flotte im Wege stünde, wurde der deutsche Botschaftsrat in London, v. Kühlmann.

Daß es der englischen Regierung mit einer zweiseitigen Flottenverständigung nicht ernst war, ging einmal daraus hervor, daß unsere Zustimmung zu ihren Einzelforderungen gar keine spürbaren Folgen zurückließ, sodann vor allem daraus, daß der Kernpunkt jeder derartigen Verständigung, die beiderseitige Flottenbegrenzung durch eine bestimmte Verhältniszahl, von ihnen erst 1913 anerkannt worden ist, obwohl Lloyd George schon 1908 mit dieser Aussicht gewinkt hatte. Trotzdem war zu spüren und ist von allen Beteiligten angenommen und ausgesprochen worden, daß wegen unseres Flottenbaues ein Krieg mit England nicht zu befürchten war und die Kriegsgefahr mit jedem Jahr unwahrscheinlicher wurde, im selben Maße, wie der Respekt vor der deutschen Flotte wuchs und damit der Krieg auch für den Jingoteil des englischen Volkes immer unprofitabler wurde. Rücksichtslose Stimmen, wie die der Saturday Review und des Zivillords Lee, wurden immer weniger vernehmbar. So stieg in London namentlich seit 1912 die Neigung zu einer mehr geschäftlichen Behandlung des deutschenglischen Verhältnisses, wovon das 1914 zur Unterzeichnung fertige englisch-deutsche Kolonialabkommen nur einen Beleg unter anderen darzustellen scheint. Wenigstens ist es von seinen deutschen Vätern als ein ernsthaftes Geschäft aufgefaßt worden.

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Quelle: Alfred von Tirpitz, Erinnerungen. Leipzig, 1920, S. 93-100.

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