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England und die deutsche Flotte: Alfred von Tirpitz blickt zurück auf das Flottenwettrüsten (1920)

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Trotzdem habe ich mich der Einbringung einer solchen Novelle zu diesem Zeitpunkt aus verschiedenen Gründen widersetzt und Anfang 1906 in diesem Zusammenhang auch ein Abschiedsgesuch eingereicht. Die Novelle, die ich 1906 einbrachte und die vom Reichstag glatt angenommen wurde, enthielt nur die sechs großen Kreuzer, die 1900 vom Reichstag gestrichen, aber sofort von mir als Nachforderung für 1906 angekündigt worden waren. Ferner konnte ich nicht umhin, vom Reichstag die erhöhten Mittel zu fordern, welche der Übergang zum Dreadnoughtbau verursachte, zu dem uns, wie alle anderen Marinen der Welt, die Engländer zwangen. Und endlich mußten die Mittel für die durch diese Größensteigerung der Schiffe notwendig gewordene Erweiterung des Nordostseekanals bewilligt werden.

Meine Zurückhaltung gegenüber dem auf mich ausgeübten Druck, mehr zu fordern, wirkte außenpolitisch beruhigend und verstärkte das Vertrauen des Reichstags. Jene Mehrforderungen hätten 1904/05 nach Lage der Verhältnisse sehr wahrscheinlich eine unmittelbare Kriegsgefahr heraufbeschworen, uns dagegen keinen sofortigen Gewinn gebracht und obendrein die damalige Verdauungskraft der Marine überstiegen.

Der Zeitpunkt, an welchem wir aus mancherlei Gründen die Herabsetzung der Lebensdauer der Schiffe fordern mußten, war das Etatsjahr 1908. Nachdem sich im Sommer 1907, schon bevor wir uns im Reichsmarineamt über die Novelle schlüssig geworden, ein wahrer Wettlauf zwischen den Parteien des Zentrums und des Freisinns für die Bewilligung einer Marinenovelle erhoben hatte, ging unsere Forderung ohne jede Schwierigkeit über die Bahn. Zum erstenmal stimmte der Freisinn jetzt nicht nur für die Schiffe als solche, sondern auch für den Grundsatz der gesetzlichen Bindung.

Diese Novelle brachte keine Vermehrung der nach dem Flottengesetz verfügbaren Schiffszahl, aber eine erhebliche Verjüngung und damit Erhöhung der Kampfkraft. Der Schiffsersatz beschleunigte auch den Dreadnoughtbau, der das Vertrauen zu den älteren Schiffsklassen erschüttert hatte.

2.

Die einzige wirkliche Krisis der deutsch-englischen Beziehungen zwischen 1904 und 1914 trat im Sommer 1911 ein infolge der Art, wie die politische Reichsleitung versuchte, den zwischen uns und den Franzosen schwebenden Marokkostreit zu liquidieren. Der damalige Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, v. Kiderlen-Wächter, dem, wie so vielen deutschen Diplomaten, das Organ gerade für England abging, hat zwar nicht durch Nachlaufen, aber durch saloppe Geschäftsbehandlung Schaden gestiftet. Auf seine Anregung entsandte am 1. Juli 1911 der Reichskanzler das Kanonenboot „Panther" nach der marokkanischen Hafenstadt Agadir und ließ die britische Regierung, welche nach dem Zweck fragte, mehrere Wochen lang ohne Antwort und im unklaren. Die Folge war, daß am 21. Juli Lloyd George eine im englischen Kabinett festgelegte Rede ablas, worin er Deutschland warnte, es würde im Fall einer Herausforderung die britische Macht an Frankreichs Seite finden.

Ich hatte von der Entsendung des „Panther" im Augenblick der Abreise in die Sommerfrische außerdienstlich Kenntnis erlangt. War es schon Anzeichen einer gewissen Desorganisation der Reichsleitung, daß der Staatssekretär der Marine vor einer weltpolitisch so schwerwiegenden Schiffsbewegung nicht gehört wurde, so war ich mir andererseits der Fehlerhaftigkeit dieser Demonstration auf dem Atlantik von demselben Augenblick an bewußt, in dem ich erfuhr, daß wir England nicht vorher verständigt hätten. Glaubte Kiderlen, nicht ohne eine militärische Geste auskommen zu können, so mußte diese zu Land und ausschließlich gegen die Franzosen gerichtet erfolgen. Ich wäre zwar grundsätzlich gegen eine solche Geste gewesen. Ein Fähnlein ist leicht an die Stange gebunden, aber es kostet oft viel, es mit Ehren wieder niederzuholen. Einen Krieg wollten wir ja nicht machen. Die gröbste Fehlrechnung aber beging die Reichsleitung darin, daß sie sich in den ersten Juliwochen über ihre Absichten in Dunkel hüllte. Kiderlen hat nachträglich versichert, daß der Kanzler niemals daran gedacht habe, marokkanisches Gebiet zu fordern. Nach Lloyd Georges Drohrede aber sah es so aus, als ob er nur vor dem erhobenen Schwert Englands zurückgewichen wäre. Unser Ansehen erlitt in der ganzen Welt einen Stoß, und auch die deutsche öffentliche Meinung stand unter dem Eindruck der Schlappe. „England stopped Germany“, war das Schlagwort der Weltpresse.

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