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Die Flotte und die deutsch-englischen Beziehungen: Brief des Kontreadmirals Tirpitz an Admiral von Stosch (13. Februar 1896)

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Dieser Vorfall kann dennoch sein Gutes haben u. ich würde, um unseren verrannten Parlamentariern die Augen zu öffnen eine etwas größere Blamage für uns in diesem Sinne sogar für nützlich halten. Erstens daß die Anglomanie an gewissen Stellen definitiv aufhört u. zweitens daß unsere Nation sich aufrafft, eine Flotte zu schaffen, wie dieselbe etwa in Dienstschrift IX entwickelt wurde. Diese Vorlage soll tatsächlich im nächsten Etat gemacht werden. Staatsregierung u. die Spitzen des Parlaments sehen freilich keine Aussicht auf Erfolg. Indem die Marine rückhaltlos den militärischen u. politischen Wert unserer jetzigen Flotte darlegt, hat sie wenigstens ihre Schuldigkeit getan u. die Geschichte wird andere Leute zur Verantwortung ziehen müssen. Ich bin also der Ansicht, England gegenüber die persönlichen Krallen zunächst einzuziehen u. in den nächsten 12 Jahren eine zeitgemäße Flotte zu schaffen, deren Stärke sich dem Sinne nach gar nicht weit von Euer Exzellenz erster Denkschrift 1872 zu entfernen braucht.

[Was nun die Operation gegen England anbetrifft, wenn es trotzdem in nächster Zeit zum Kriege kommt, so muß ich Euer Exzellenz zunächst sagen, daß dieser Fall noch nicht im Ober-Kommando durchgearbeitet ist, weil uns der Krieg mit Frankreich u. Rußland näher auf dem Pelz brannte. Wir haben die ganze Zeit mit zwei starken Dezernenten daran gearbeitet, um einigermaßen für diese Lage eine Grundlage zu bekommen. Wie ich nach Berlin kam, war absolut nichts in dieser Beziehung vorhanden u. wir waren sämtlich erstaunt, wie die Materie unter unseren Händen wuchs. Manches wird sich von dieser Grundlage übertragen lassen auf andere Fälle; doch keineswegs alles und namentlich nicht die militärische Erwägung des Vorgehens selbst. Ich bin daher nur in der Lage, meine allgemeine u. nicht durchgearbeitete Auffassung zur Sache auszusprechen. Vom Kreuzerkrieg verspreche ich mir auch gegen England nicht viel. Unsere im Ausland befindlichen Schiffe werden sehr bald blockiert, wahrscheinlich genommen u. vernichtet, denn politische Neutralität wird England nicht respektieren. Mit einigen Lloyddampfern werden wir eine gewisse Unruhe erzeugen können, aber nicht viel, denn unser Lloyddampferwesen hat sich ohne Rücksicht auf eine solche Verwendung entwickelt, was zum Vorteil von beiden Teilen d. h. d[es] Lloyd u. der Marine hätte geschehen können. Dazu fehlt uns jedweder Schutzhafen im Ausland, während Englands Kriegsschiffe modernster Konstruktion auf der ganzen Welt wimmeln u. überall Kohlen u. Schutzhäfen finden. Es bleibt die eigentliche Schlachtflotte, die in der Nordsee zu konzentrieren ist, die Ostsee, solange sie selbst noch existiert, deckt, und den englischen Handel daselbst zunächst lahmlegt. Unterschätzt England unsere Seemacht zu sehr, unterschätzt es namentlich unsere einzige Stärke, die Torpedoboote, so kommt es zu einer Schlacht bei Helgoland mit den englischen Kräften, die fertig in England zur Hand sind. Es wäre denkbar, daß wir eine schlecht unternommene Offensive der englischen Flotte zurückwerfen würden u. durch die in London ausbrechende Katastrophe einigen Vorteil erzielten; namentlich auch dadurch, daß nunmehr Rußland doch die Gelegenheit für günstig hielte, seinerseits gegen England loszugehen; den zweiten Vorstoß der englischen Flotte würden wir nicht mehr aushalten.

Handelt England richtig, so greift es uns nur mit überwältigender Übermacht an, nimmt Borkum u. etabliert sich daselbst. Blockiert Nord- und Ostsee. Letzteres gleichzeitig als Demonstration gegen Rußland wirkend. Nimmt unsere Kolonien. Zerstört unseren Handel auf der ganzen Welt u. treibt soviel Unfug an unseren Küsten als möglich. Wir müssen klein beigeben, wenn uns Frankreich nicht zu Hilfe kommt. Können wir darauf aber unsere Rechnung gründen? Meiner Ansicht nach nicht. England würde, wenn es militärisch richtig verfährt, seine ganze heimische Flotte mobil machen müssen, schon um gegen Komplikationen sicher zu gehen. Es müßte sammeln in der Themsemündung mit starken Aufklärungsgeschwadern gegen unsere mögliche Anmarschrichtung. Die englische Mobilmachung vollzieht sich etwas langsamer wie bei uns, wenigstens wenn sie in großem Stil vorgenommen wird. Wir würden möglicherweise einige Tage Vorsprung haben u. es würde die Frage entstehen können, sollen wir mit allem, was kriechen kann, in die Themse gehen. Dort kommen unsere vielen für Hafen- u. Flußkrieg gebauten Schiffe auch zur Geltung. Wir könnten auf einen Schlag einen recht großen Teil der englischen Kauffahrerflotte in die Hand bekommen u. Teile von London mit Bombardement bedrohen. Die Frage ist, ob dieser kurze Zeitraum zu dem [?] Erfolg groß genug ist, um einen für beide Teile billigen Friedenskompromiß zustande zu bringen.

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