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Die Wahrnehmung der deutschen Außenpolitik in England (1. Januar 1907)

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Keiner, der das deutsche politische Denken kennt und das Vertrauen deutscher Freunde genießt, die ihre Meinung frei und offen äußern, kann leugnen, dass dies die Gedanken sind, welche die Spatzen von den Dächern pfeifen, und dass die Unfähigkeit, mit ihnen zu sympathisieren, in Deutschland als typisch für einen mit Vorurteilen behafteten Ausländer gilt, der die wahren Gefühle der Deutschen nicht begreift. Man geht auch keineswegs fehl, in diesem Zusammenhang auf eine Reihe von Sinnsprüchen mit imperialem Gestus zu verweisen, die von Zeit zu Zeit dazu dienen, die vorherrschende deutsche Gefühlslage zusammenzufassen, und manche von ihnen verdienen es zitiert zu werden: „Unsere Zukunft liegt auf dem Wasser“, „Der Dreizack gehört in deutsche Faust“, „Deutschland muss sein Erbe als Seemacht zurückerobern, das einst unangefochten in den Händen der alten Hanse lag“, „Ohne Deutschland und ohne den deutschen Kaiser [darf] keine große Entscheidung fallen“, „Der Kaiser des Atlantik grüsst den Kaiser des Pazifik“ und so weiter.

Man kann die Bedeutung dieser vereinzelten Äußerungen leicht übertreiben. Zusammengenommen unterstreichen sie aber den Eindruck, dass Deutschland die klare Absicht verfolgt, auf der politischen Bühne der Welt eine viel größere und mächtigere Rolle zu spielen als jene, die dem Land unter der gegenwärtigen Verteilung der materiellen Macht zugestanden wird. Es hieße die politische Kritik zu eng zu fassen, diese Theorie nationaler Selbstbehauptung nur als eine Frage der Moral anzusehen, die mit kasuistischer Anwendung jener Prinzipien zu lösen sei, die das private Verhalten in modernen Gesellschaften regulieren. Die Geschichte neigt dazu, die Handlungen von Staaten von ihrem Ergebnis her zu beurteilen, wobei der ethische Charakter der angewendeten Mittel nur allzu oft wenig Beachtung findet. Den rücksichtslosen Eroberungen der Römischen Republik und des Römischen Reiches wird heute attestiert, eine Bündelung der besten Energien der Welt herbeigeführt zu haben, die wegen des spezifischen und nachhaltigen Einflusses auf die Kulturen der Antike die Unredlichkeit der politischen Moral der Eroberer bei weitem kompensieren. Peter der Große und Katharina II sind zu Recht Helden in den Augen Russlands, das seine Existenz als eine mächtige und einige Nation ihrer skrupellosen und gewieften Politik verdankt. Die selbstherrliche Besitzergreifung von Schlesien durch Friedrich den Großen, die niedrigen Intrigen, durch welche die erste Teilung Polens herbeigeführt wurde, die gewundenen Manöver, mittels derer Bismarck Schleswig-Holstein Preußen einverleibte, sie alle sind vergessen und vergeben angesichts eines mächtigen Deutschland, das diesen und allen seinen anderen Territorien eine aufgeklärtere Regierung, einen breiteren nationalen Horizont und einen größeren Anteil an der ruhmreichen nationalen Tradition gebracht hat als es unter anderen Umständen ihr Los gewesen wäre. Es wäre in den Augen der Deutschen schließlich nur logisch, wenn sie ohne zu zögern an ihre gegenwärtige Politik den Maßstab anlegten, der zu solchen historischen Urteilen führt, und wenn sie bereit wären, die Bürde der Rechtfertigung von Gewaltanwendung im Dienste der Ausbreitung deutscher Herrschaft über gegenwärtig unwillige Völker der Nachwelt zu überlassen. Kein moderner Deutscher würde sich einer puren Eroberungslust um des Eroberns willen schuldig bekennen. Aber die vagen und undefinierten Pläne teutonischer Expansion („die Ausbreitung des deutschen Volkstums“*) sind nur der Ausdruck eines tief verwurzelten Gefühls, dass sich Deutschland dank der Kraft und Reinheit seiner nationalen Ziele, der Inbrunst seines Patriotismus, der Tiefe seines religiösen Glaubens, dem hohen Niveau seiner Kompetenz, der eindeutigen Ehrlichkeit seiner Verwaltung, dem erfolgreichen Streben jeglicher öffentlicher und wissenschaftlicher Aktivität und des hohen Anspruchs von Philosophie, Kunst und Ethik das Recht verdient hat, die Vorrangstellung der deutschen nationalen Ideale einzufordern. Und da es ein Axiom seiner politischen Überzeugung ist, Recht müsse, um sich durchzusetzen, durch Gewalt unterstützt werden, ist es nur ein Schritt bis zur Überzeugung, dass das in patriotischen Reden eine so große Rolle spielende „gute deutsche Schwert“ dazu da sei, jegliche Schwierigkeit, welche die Festigung der Herrschaft dieser Ideale in einer germanisierten Welt behindern könnte, aus dem Weg zu räumen.

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*Im Original deutsch


Quelle: Eyre Crowe, „Memorandum on the Present State of British Relations with France and Germany“ [„Memorandum zum gegenwärtigen Stand der britischen Beziehungen zu Frankreich und zum Deutschen Reich”] (1. Januar 1907), in G.P. Gooch und H. Temperly, Hg., British Documents on the Origins of the War, 1898-1914 [Die Britischen Amtlichen Dokumente über den Ursprung des Weltkrieges 1898-1914]. 11 Bände. London, 1926-1938, Bd. 3, S. 402-06 (Anhang A).

Übersetzung: Erica Fischer

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