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Die Wahrnehmung der deutschen Außenpolitik in England (1. Januar 1907)

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Mit den Ereignissen von 1871 ging der Geist Preußens auf das neue Deutschland über. In keinem anderen Land ist die Überzeugung, dass die Wahrung nationaler Rechte und die Verwirklichung nationaler Ideale so absolut von der Bereitschaft jedes Staatsbürgers abhängt, sich für die Selbstbehauptung und Verteidigung des Staates einzusetzen, so tief in Leib und Seele aller Bevölkerungsschichten eingewurzelt. Mit „Blut und Eisen“ hatte Preußen seine Stellung in den Rat der europäischen Großmächte eingeprägt. Durch die Förderung, die jede Form von nationaler Aktivität seitens der neu errungenen Einheit erfuhr, und insbesondere durch den wachsenden Ausbau des Überseehandels, der in immer größerem Ausmaß in den nunmehrigen Reichshäfen der einst „unabhängigen“, aber politisch unbedeutenden Hansestädte abgewickelt wurde, kam es im Laufe der Zeit dazu, dass sich der Energie des jungen Reichs eine ganze außereuropäische Welt öffnete, von der es zuvor kaum Gelegenheit hatte, auch nur schemenhaft Kenntnis zu nehmen. Auf ihren Wegen über die Ozeane auf deutschen Schiffen bekamen deutsche Kaufleute zum ersten Mal eine Ahnung von der wahren Bedeutung von Ländern wie England, den Vereinigten Staaten, Frankreich und den Niederlanden, deren politischer Einfluss sich auf entlegene Meere und Kontinente erstreckt. Insbesondere die Kolonien und überseeischen Besitztümer Englands wurden als ein Vorteil erkannt, der dem Land einen erkennbaren und beneidenswerten Status verlieh, während die Nennung Deutschlands, wenn es überhaupt erwähnt wurde, kein maßgebliches Interesse erweckte. Die Wirkung dieser Entdeckung auf die deutsche Seele war eigenartig und lehrreich. Hier gab es einen gigantischen Bereich menschlicher Aktivität, bei der der bloße Titel und Rang einer europäischen Großmacht an sich noch keine besondere Auszeichnung bedeutete. Hier also gab es einen Bereich unheilschweren Ausmaßes, der die Proportionen der europäischen Länder winzig klein erscheinen ließ, einen Bereich, wo sich andere, auf die man vielleicht als vergleichsweise kleine Völkchen eher hinuntergeschaut hatte, zu Hause und geachtet fühlten, während Deutschland bestenfalls als Ehrengast empfangen wurde. Hier gab es ein ausgeprägtes Ungleichgewicht zugunsten der See- und Kolonialmächte.

Ein solcher Stand der Dinge war dem deutschen Nationalstolz abträglich. Deutschland hatte seinen Platz als eine der führenden Mächte, wenn nicht sogar der ersten Macht auf dem europäischen Kontinent errungen. Doch jenseits der europäischen Großmächte schien es noch die „Weltmächte“ zu geben. Es wurde unumwunden festgestellt, dass Deutschland eine „Weltmacht“ werden musste. Die Entwicklung dieser Idee und ihre Übersetzung in praktische Politik folgten mit erstaunlicher Konsequenz den gedanklichen Leitlinien, welche die preußischen Könige bei ihrem Bemühen um die Vergrößerung Preußens inspiriert hatten. „Soll Preußen“, sagte Friedrich der Große, „im Ratschlag der europäischen Völker etwas zählen, muss es eine Großmacht werden“. Und das Echo: „Der Ozean ist unentbehrlich für Deutschlands Größe. Will Deutschland in den Angelegenheiten einer größeren ozeanischen Welt mitreden, muss es eine Weltmacht werden“. „Ich will mehr Territorium“, sagte Preußen. „Deutschland braucht Kolonien“, sagt die neue Weltpolitik. Und so wurden Kolonien in Gegenden eingerichtet, denen sich noch niemand bemächtigt hatte, oder aus denen andere mit der kraftvoll vorgetragenen Forderung Deutschlands nach einem „Platz an der Sonne“ hinausgedrängt werden konnten: Damaraland, Kamerun, Togoland, Deutsch-Ostafrika, Neuguinea und andere Inselgruppen im Pazifik. Es nimmt nicht Wunder, dass das deutsche Beispiel Nachahmer fand und sich die Landkarte unbeanspruchter Territorien erstaunlich rasch füllte. Nach der Endabrechnung erschien der tatsächlich von Deutschland erzielte Gewinn auch in deutschen Augen einigermaßen mager. Ein paar frische Besitztümer kamen durch Kauf oder internationalen Vertrag noch dazu: die Karolinen, Samoa, Helgoland. Eine Transaktion im alten preußischen Stil sicherte Kiautschou. Im Großen und Ganzen erwiesen sich die „Kolonien“ jedoch als einigermaßen zweifelhafte Aktivposten.

Derweil hatte sich der Traum eines Kolonialreiches tief in die deutsche Phantasie eingegraben. Der Kaiser, Staatsmänner, Journalisten, Geografen, Ökonomen, Handels- und Speditionsfirmen und die große Masse der gebildeten und ungebildeten öffentlichen Meinung fordern in einem fort unisono: Wir brauchen unbedingt echte Kolonien, wo sich deutsche Auswanderer niederlassen und den nationalen Gedanken des Vaterlandes verbreiten können, und wir brauchen unbedingt eine Flotte und Bekohlungsanlagen, um die Kolonien zusammenzuhalten, die wir uns zweifelsohne beschaffen werden. Auf die Frage „Warum unbedingt?“ folgt die Antwort: „Ein gesunder und mächtiger Staat wie Deutschland mit seinen 60 Millionen Einwohnern muss expandieren, darf nicht stillstehen, es braucht Territorien, in die seine überquellende Bevölkerung auswandern kann, ohne ihre Nationalität aufzugeben“. Wenn dem entgegengehalten wird, dass die Welt praktisch unter unabhängigen Staaten aufgeteilt ist und keine Territorien zur Kolonisierung mehr zur Verfügung stehen, ohne sie dem rechtmäßigen Besitzer wegzunehmen, dann lautet die Antwort: „Damit können wir uns nicht abgeben. Notwendigkeit kennt kein Gesetz. Die Welt gehört dem Starken. Eine kraftvolle Nation kann es nicht zulassen, dass ihr Wachstum durch blindes Einhalten des Status quo behindert wird. Wir haben es nicht auf die Besitztümer anderer Leute abgesehen, aber wo Staaten zu schwach sind, ihr Territorium bestmöglich zu nutzen, ist es die Aufgabe jener, die dazu in der Lage und bereit sind, ihren Platz einzunehmen“.

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