GHDI logo

Eine andere Ansicht: Rosa Luxemburg (1913)

Seite 4 von 4    Druckfassung    zurück zur Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument


Eine Folge der Rüstungsdelirien ist der schmachvolle Niedergang des Parlamentarismus. In Deutschland ist jede bürgerliche Opposition aus dem Parlament verschwunden, es gibt keine Rüstungsvorlage, die nicht von den getreuen Regierungsmamelucken bewilligt würde. Die Regierung braucht nur zu pfeifen, und die Parlamente springen wie die Pudel. Wir arbeiten bei Reichstagswahlen im Schweiße unseres Angesichts, um soviel Vertreter als möglich in den Reichstag zu schicken, wenn es aber einen Arbeiter gibt, der da meint, es genüge, einen Stimmzettel abzugeben, so kann er mir nur leid tun. Im gleichen Maße, in dem mehr Sozialdemokraten in die Parlamente geschickt werden, sinken diese Parlamente immer mehr zu einem Feigenblatt des Absolutismus herab. Als die Chinaexpedition ausgerüstet wurde, waren die Abgeordneten bei Muttern, nachher gewährten die Vertreter des Bürgertums für die schon verausgabten Mittel mit hündischer Beflissenheit Indemnität. In England, wo das Zeremoniell des parlamentarischen Hokuspokus besonders ausgebildet ist, liegen die Verhältnisse genauso, schrieb doch ein englisches Blatt, der dreimal heilige Parlamentarismus ist auf dem besten Wege, den Laden zu schließen. Wie in Deutschland und England ist es auch in Österreich und in andern Staaten: Der Parlamentarismus gerät immer tiefer in den Sumpf. Was wären wir Sozialdemokraten wert, wenn wir unsre Hoffnungen auf den Parlamentarismus setzen wollten? Die Schwerkraft der sozialdemokratischen Politik muß in die Massen verlegt werden, das Parlament bleibt nur noch eine – allerdings bedeutende – Rednertribüne, von der aus die sozialistische Aufklärung erfolgen und die Masse aufgepeitscht werden soll. Daß die Masse handeln kann, wenn es nötig ist, dafür haben wir in der letzten Zeit genug Beweise gehabt. Man sagt uns oft mit den Kassen- und Mitgliedsbüchern in der Hand, wir haben noch nicht genug Mitglieder, die Kassen sind noch zu schwach, um große Aktionen durchführen zu können. O über diese kleinen Rechenmeister! Ich unterschätze nicht den Wert der Organisationen, man kann sie nicht hoch genug schätzen, Aber es wäre höchst falsch, wenn man annehmen wollte, erst müßte der letzte Arbeiter und die letzte Arbeiterin eingeschriebenes Mitglied der Partei sein, ehe der große Marsch gegen den Kapitalismus angetreten werden könne. In Belgien haben erst jetzt 400.000 Mann 10 Tage lang mit verschränkten Armen dagestanden, um politische Rechte zu erobern, wenn ich auch der Meinung bin, daß man sie nicht zur rechten Zeit ins Feuer geführt hat. Dabei hat die belgische Arbeiterschaft bei weitem nicht so gute Organisationen wie die deutsche. Auch das Beispiel der russischen Revolution hat ja bewiesen, was die Masse kann. 1906 hatte das russische Proletariat keine gewerkschaftlichen und keine politischen Organisationen, und wenige Jahre darauf waren im Feuer der Revolution feste proletarische Organisationen geschmiedet.

Es ist nötig, daß wir unsre Kraft, die elementare Kraft der großen Masse, nicht unterschätzen, denn die Gefahr, daß wir unsre Kräfte unterschätzen, ist größer als etwa eine Überschätzung unsrer Kräfte. Wir müssen den Proletariermassen sagen, wenn wir jetzt, nach 50 Jahren der Entwicklung, in unsern Reihen Millionen zählen, daß dies nicht bloß zum Stolz berechtigt, sondern auch zu Taten verpflichtet. Je mehr wir wachsen, um so mehr sind wir verpflichtet, die ganze Wucht unsrer Masse in die Waagschale zu werfen. Wir müssen die Massen aufklären und ihnen sagen, wenn die Kapitalisten die Welt verteilen, so sind wir die Erben dieser halsbrecherischen Unternehmungen. Wir müssen jenen Mut, jene Entschlossenheit und Rücksichtslosigkeit in der Verfolgung unsrer Aufgaben zeigen, die von den bürgerlichen Revolutionären aufgebracht wurde, die Danton zusammenfaßte, als er sagte, in bestimmten Situationen brauche man als Parole nur drei Worte: Kühnheit, Kühnheit und noch einmal Kühnheit! (Stürmischer Beifall.)



Quelle: Rosa Luxemburg, „Die weltpolitische Lage“ (Rede am 27. Mai 1913 in Leipzig-Plagwitz), Leipziger Volkszeitung, Nr. 121, 29. Mai 1913.

Auch abgedruckt in Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke. Berlin (Ost): Dietz Verlag, 1970. Bd. 3, S. 212-19.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite