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Triumph der Gewaltlosigkeit in Leipzig (9. Oktober 1989)

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In der Nikolaikirche und in drei weiteren Gotteshäusern wurde während der Friedensgebete ein von sechs Persönlichkeiten der Stadt getragener Aufruf zur Besonnenheit verlesen: »Unsere gemeinsame Sorge und Verantwortung haben uns heute zusammengeführt. Wir sind von der Entwicklung in unserer Stadt betroffen und suchen nach einer Lösung. Wir alle brauchen einen freien Meinungsaustausch über die Weiterführung des Sozialismus in unserem Land. Deshalb versprechen die Genannten heute allen Bürgern, ihre ganze Kraft und Autorität dafür einzusetzen, daß dieser Dialog nicht nur im Bezirk Leipzig, sondern auch mit unserer Regierung geführt wird. Wir bitten Sie dringend um Besonnenheit, damit der friedliche Dialog möglich wird.«

Dieser gemeinsame Appell des Kabarettisten Bernd-Lutz Lange, des Gewandhauskapellmeisters Kurt Masur und des Theologen Peter Zimmermann, sowie der Sekretäre der SED-Bezirksleitung Kurt Meyer, Jochen Pommert und Roland Wötzel wurde um 18 Uhr auch vom Sender Leipzig und etwa eine Stunde später vom Stadtfunk ausgestrahlt. Die engagierte wie couragierte Wortmeldung hat unzweifelhaft beigetragen zum friedlichen Verlauf dieses Tages, ohne jedoch die voreilig bescheinigte entscheidende Rolle gespielt zu haben. Einzig die geballte Kraft der siebzigtausend angsterfüllten und dennoch nicht weichenden Menschen in der Innenstadt und auf dem Ring erzwang um 18.25 Uhr den endgültigen Rückzug der bewaffneten Einheiten. Jene Namenlosen meinte wohl Christoph Hein, als er vorschlug, Leipzig zur »Heldenstadt« der DDR zu ernennen. –

An diesem Leipziger 9. Oktober siegte die Deutsche Demokratische Revolution 1989. An jenem Montag nämlich wurde der Ruf »Wir sind das Volk!« zur materiellen Gewalt, die fortan alle zögerlichen Zugeständnisse von Partei und Regierung bewirkte und beschleunigte. [ . . . ]


Quelle: Vorwort (S. 7-8) „Oktoberrevolution 1989“, aus Leipziger Demontagebuch. Zusammengestellt und mit einer Chronik von Wolfgang Schneider. © Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 1990 (die Originalausgabe erschien 1990 im Gustav Kiepenheuer Verlag; Gustav Kiepenheuer ist eine Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG); abgedruckt in Christoph Kleßmann und Georg Wagner, Hg., Das gespaltene Land. Leben in Deutschland 1945-1990. Texte und Dokumente zur Sozialgeschichte. München: Verlag C.H. Beck, 1993, S. 438-40.

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