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Sozialistischer „Revisionismus”: Die nächsten Aufgaben der Sozialdemokratie (1899)

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[ . . . ] Die Sozialdemokratie kann der Gründung von Arbeiterkonsumgenossenschaften, wo die wirtschaftlichen und gesetzlichen Vorbedingungen dazu gegeben sind, ohne Bedenken zusehen, und sie wird gut tun, ihnen ihr volles Wohlwollen zu schenken und sie nach Möglichkeit zu fördern. [ . . . ]

Damit kommen wir schließlich zur Gemeindepolitik der Sozialdemokratie. Auch diese war lange Zeit das oder ein Stiefkind der Sozialistischen Bewegung. [ . . . ] Was verlangt die Sozialdemokratie für die Gemeinde und was erwartet sie von der Gemeinde? [ . . . ]

Die Sozialdemokratie wird [ . . . ] für die Gemeinden neben der Demokratisierung des Wahlrechts Erweiterung ihres, in verschiedenen deutschen Staaten noch sehr beschränkten Expropriationsrechts verlangen müssen, wenn eine sozialistische Gemeindepolitik möglich sein soll. Außerdem volle Unabhängigkeit ihrer Verwaltung, insbesondere der Sicherheitspolizei von der Staatsgewalt. [ . . . ] Ferner sind heute mit Recht in den Vordergrund gerückt die auf die Ausbildung der kommunalen Eigenbetriebe, bzw. der öffentlichen Dienste und der Arbeiterpolitik der Gemeinden bezüglichen Forderungen. In ersterer Hinsicht wird als prinzipielle Forderung aufzustellen sein, daß alle auf das allgemeine Bedürfnis der Gemeindemitglieder berechneten und Monopolcharakter tragenden Unternehmungen von der Gemeinde in eigener Regie zu betreiben sind und daß im übrigen die Gemeinde danach streben soll, den Kreis der Leistungen für ihre Angehörigen beständig zu erweitern. Hinsichtlich der Arbeiterpolitik muß von den Gemeinden verlangt werden, daß sie als Beschäftiger von Arbeitern, ob es sich nun um Arbeiten in eigener Regie oder um Verdingungsarbeiten handelt, als Mindestbedingung die von den Organisationen der betreffenden Arbeiter anerkannten Lohn- und Arbeitszeitsätze innehalten und das Koalitionsrecht dieser Arbeiter verbürgen. [ . . . ]

Nun ist die Sozialdemokratie nicht ausschließlich auf das Wahlrecht und die parlamentarische Tätigkeit angewiesen. Es bleibt ihr auch außerhalb der Parlamente ein großes und reiches Arbeitsfeld. Die sozialistische Arbeiterbewegung würde sein, auch wenn ihr die Parlamente verschlossen wären. [ . . . ] Aber mit ihrem Ausschluß aus den Vertretungskörpern würde die deutsche Arbeiterbewegung in hohem Grade des inneren Zusammenhangs verlustig gehen, der heute ihre verschiedenen Glieder verbindet, sie würde einen chaotischen Charakter erhalten, und an die Stelle des ruhigen unablässigen Vormarsches im festen Schritte würden sprunghafte Vorwärtsbewegungen treten mit den unausbleiblichen Rückschlägen und Ermattungen.

Eine solche Entwicklung liegt weder im Interesse der Arbeiterklasse noch kann sie jenen Gegnern der Sozialdemokratie als wünschenswert erscheinen, die zu der Erkenntnis gelangt sind, daß die gegenwärtige Gesellschaftsordnung nicht für alle Ewigkeiten geschaffen ist, sondern dem Gesetz der Veränderung unterliegt, und daß eine katastrophenmäßige Entwicklung mit all ihren Schrecken und Verheerungen nur dadurch vermieden werden kann, daß den Veränderungen in den Produktions- und Verkehrsverhältnissen und der Klassenentwicklung auch im politischen Recht Rechnung getragen wird. Und die Zahl derer, die das einsehen, ist im steten Wachsen. Ihr Einfluß würde ein viel größerer sein als er heute ist, wenn die Sozialdemokratie den Mut fände, sich von einer Phraseologie zu emanzipieren, die tatsächlich überlebt ist, und das scheinen zu wollen, was sie heute in Wirklichkeit ist: eine demokratisch-sozialistische Reformpartei.

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