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Proteste von Umweltschützern gegen den Bau eines Atomkraftwerks in Wyhl (1975)

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Die Sprecher der Bürgerinitiativen aus den verschiedenen Dörfern vertraten am deutlichsten die Meinung des Publikums. Alarmiert durch die Warnungen der Umweltschützer und die Welle von Umweltskandalen, über die in den Medien wenigstens berichtet wird, vertraten sie zunächst ökonomische Interessen. Sie fürchten mit gutem Grund für die Landwirtschaft: die Mais- und Getreidefelder, Obst- und Tabakplantagen, Fischerei; fürs Grundwasser, die Wälder. Die stärkste geschlossene Gruppe sind die Winzer. Jahrelang durch Subventionen, Rebumlegung, Einführung moderner Methoden und sehr viel Familienarbeit hochgezüchtet, soll jetzt der Kaiserstuhlweinbau den Interessen der Großindustrie geopfert werden. Das sieht kein Mensch ein. Deshalb ist die Vertrauenskrise auch so einschneidend. Früher hat die Regierung Subventionen geschickt und jetzt die Atomindustrie. »Wir können unseren Acker nicht auf den Buckel nehmen und damit wegziehen«, sagt ein Tabakpflanzer. Und für die Nebenerwerbslandwirte, die in Freiburg bei der Rhodia oder in Malterdingen bei Klöckner arbeiten, gilt das auch: Ihr Grund, ihr Haus, ihr Stück Weinberg war bisher in jeder Krise eine Sicherheit, ein nützliches Rückzugsgebiet.

Die Sprecher der Bürgerinitiativen sind sehr gut informiert, besser als wir es damals waren, besser als viele (sonst kritische) Großstädter, die die ganze Bewegung mit Maschinenstürmerei verwechseln. Viele Dorfbewohner, auch solche, die wenig lesen, haben seit Jahren Informationsveranstaltungen besucht, Bücher gelesen, Flugblätter verfaßt und zu Tausenden einzeln in die Briefkästen gesteckt (in einem Umkreis von 50 km!), demonstriert und Leserbriefe verschickt.

Das Publikum hat sich in den zwei Tagen Erörterungstermin nicht aufs Zuhören beschränkt. Es revoltierte mit Sprechchören, Zwischenrufen, Pfiffen, wenn die offiziellen Lügen zu unverschämt wurden. Nach arroganten, autoritären Wendungen des Vorsitzenden Grawe brach minutenlang Tumult los. Zum ersten Mal riefen die Leute den lapidaren Sprechchor: »Das KKW wird nicht gebaut!« Und als die Bürgerinitiativen am Nachmittag des 10. Juli zum Auszug aufriefen, blieben praktisch nur Regierung, Industrie, Polizei und Presse im Saal – eine sehr sinnfällige Allianz.

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Quelle: Walter Mossmann, „Die Bevölkerung ist hellwach!“, Kursbuch 1975, Nr. 39, S. 129 ff; abgedruckt in Christoph Kleßmann und Georg Wagner, Hg., Das gespaltene Land. Leben in Deutschland 1945-1990. München, 1993, S. 260-62.

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