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Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft (1887). Vorrede zur 2. Auflage (1912)

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Hieraus eben ist das Theorem von Gemeinschaft und Gesellschaft, und davon untrennbar das von Wesenwillen und Willkür, entstanden. Zwei Typen sozialer Verhältnisse — zwei Typen individueller Willensgestaltungen — beide doch aus einem Punkte zu begreifen, aus dem Verhältnisse zwischen einem Ganzen und seinen Teilen, dem alten aristotelischen Gegensatze des Organismus und des Artefakts — wobei aber das Artefakt selber als mehr oder minder dem organischen oder dem mechanischen Aggregat wesensähnlich verstanden werden muß. Alle sozialen Gebilde sind Artefakte von psychischer Substanz, ihr soziologischer Begriff muß zugleich psychologischer Begriff sein.

Höffding, selber als Psychologe der Soziologie geneigt, durch Ethik und Religionsphilosophie zu ihr hingezogen, schrieb von diesem Werke, es verbinde auf eigentümliche Weise Soziologie und Psychologie, indem es zeige, wie die soziale Entwicklung notwendigerweise zusammenhänge mit, und ihr Seltenstück habe in, einer entsprechenden Entwicklung der menschlichen Geistesfähigkeiten. Wundt, der ebenfalls diese Begriffe der Erwähnung wert erachtet hat, meint, daß meine Unterscheidung der Willensformen der „geläufigeren in einfaches ober triebartiges und zusammengesetztes Wollen oder Wahl entsprechen dürfte". Ich habe darauf geantwortet (Archiv für systemat. Philosophie IV. Bd. 4 S. 487 f.): „Das triebartige Wollen ist für mich nur die Keimform des „Wesenwillens"; zu diesem 'gehört' nicht allein zusammengesetztes Wollen der allerkompliziertesten Arten, sondern darin entfaltet, ja verwirklicht er erst sein Wesen als menschlicher Wille; denn die „natürlichen Triebe" der Menschen habe ich niemals ihren Willen genannt, sondern ich denke Willen immer als appetitus rationalis — als appetitus aber nicht sowohl das Streben (oder Widerstreben) etwas zu tun, sondern das diesem zu Grunde liegende positive oder negative Verhältnis zum Nicht-Ich, welches Verhältnis erst durch Begleitung und Mitwirkung des Denkens zum Wesenwillen wird. Ich sage: dieser verwirklicht sich erst im zusammengesetzten Willen . . . denn so fasse ich die gesamte Ideenwelt des schaffenden Menschen, des Künstlers oder des ethischen Genies, als Ausdruck seines Wesenwillens, aber auch jede freie Handlung, insofern sie eben aus den wesentlichen Richtungen seines Geistes, Gemütes oder Gewissens hervorgeht. Daher: als Wesenwillen in sozialer Determination und als Gemeinschaft verstehe und zerlege ich, was Hegel die konkrete Substanz des Volksgeistes nennt, etwas so weit über die „sozialen Triebe" sich erhebendes, daß es die gesamte Kultur eines Volkes bestimmt und trägt." (Daselbst noch fernere Bemerkungen in Ehrerbietung gegen den Altmeister der deutschen Philosophie). — Die richtige Fragestellung wird auch in V. Barth's „Geschichte der Erziehung" (Leipzig 1911 S. 40) anerkannt, wo das Wesen der Soziologie und ihr Verhältnis zur Pädagogik in der Einleitung behandelt wird.

Die Wissenschaft der Nationalökonomie führt im Ganzen ein von der Philosophie getrenntes Leben. Und doch hat sie immer ein Verhältnis zu ihr gesucht, sie hat ihr Verlangen nach philosophischer Begründung oft und lebhaft kundgegeben. In den 25 Jahren, die seit dieser Publikation verflossen sind, ist dies stärker als zuvor hervorgetreten. Die reine Soziologie ist allmählich zum Range einer Art von Hülfswissenschaft der politischen Oekonomie erhoben worden. In der Begründung soziologischer Gesellschaften (neuerdings auch in Deutschland) woran Nationalökonomen in erster Linie beteiligt waren, hat dies seine äußere Dokumentierung gefunden.

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