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Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft (1887). Vorrede zur 2. Auflage (1912)

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So läuft dem Niedergange der Hegelschen Philosophie die Ueberwindung des altpreußischen, in den konservativen Deutschen Bund eingehüllten Staatsgedankens durch die solange von ihm verabscheute Idee der deutschen Einheit parallel; die aber in der Form sich vollzog — paradox wie so viele historische Erfüllungen — daß eben jener preußische Staatsgedanke ihr gewaltsames Werkzeug wurde.

In dieser Epoche verlor die Philosophie, was sie an geistiger, ethisch-politischer Führung in der deutschen Nation besessen hatte.

Ihr Schicksal war das Schicksal eines Liberalismus, der durch das Beiwort 'national' indirekt ausdrückte, daß er sich grundsätzlich unterordnete und sich weniger zur Führung radikalerer Elemente als zur Anpassung an die Reaktionären für berufen hielt.

Nur mit der naturwissenschaftlichen Aufklärung behielt diese Denkungsart einige Fühlung; aber doch auch nur so, daß sie den Konflikten mit dem kirchlichen Bewußtsein scheu aus dem Wege ging, zumal seitdem (vom Jahre 1878 an) der 'Kulturkampf' aufgegeben, ein duldsam-freundliches Verhältnis sogar zur päpstlichen Kirche in das nationale Bekenntnis aufgenommen war.

Die tiefer liegenden Zusammenhänge mit der allgemeinen sozialen Entwicklung sind leicht erkennbar. In fortwährender Wechselwirkung mit den Nachbarländern, Frankreich und England, hatte auch in Deutschland seit 1840 die Entwicklung der großen Industrie eingesetzt, die Arbeiterbewegung und mit ihr die sozialistischkommunistischen Lehren klopften an die Tore.

Auch an die Tore der Hochschulen. Die Nationalökonomie war ihrem überwiegenden Charakter nach eine Lehre der praktischen Politik. Sie hatte wesentlich im Sinne des Kapitalismus und der freien Konkurrenz gewirkt. Das 'laissez faire' stand auf ihrer Fahne. Deutsche Gelehrsamkeit versuchte freilich schon ihr einen historischen Charakter zu geben. Eben dies wirkte mit, die Dogmatik des 'Manchestertums' zu brechen. Ethische Motive sprachen stark zu Gunsten der ringenden Arbeiterklasse. Der Katheder-Sozialismus trat auf die Bühne. Den Namen gab er sich nicht selber, aber er konnte schon sich getrauen, ihn zu adoptieren. Die politische Oekonomie, die in England schon früher — unter der leidenschaftlichen Beredsamkeit Carlyle's, den ästhetisch-ethisch gefärbten Anklagen Ruskins — das Odium des Materialismus auf sich gezogen hatte, hüllte sich nun in das Gewand des deutschen Idealismus, der in erster Linie an die Pflichten der besitzenden Klassen zu appellieren für geboten hält.

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