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Julius Langbehn, Rembrandt als Erzieher (1890)

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Individualismus der Deutschen.
Das letzte Ziel nationaler Kunst wie Bildung bleibt zwar stets: Monumentalität, Stil, Gebundenheit; aber zunächst muß das deutsche Leben sich lösen, ehe es sich binden kann; die Schleife muß gelockert werden, ehe sie sich wieder schürzen läßt. Drei Aufgaben sind es, welche jetzt der Deutschen harren; nämlich ihren Geist erstens: zu individualisieren und zweitens: zu konsolidieren und drittens: zu monumentalisieren. Jede folgende Stufe der Entwickelung ist ohne die vorhergehende undenkbar.

Individualismus ist das herrschende Prinzip der Welt, soweit diese von menschlichem Standpunkt aus beurteilt werden kann; zugleich aber ist er das herrschende Prinzip des Deutschtums. Durch einen derartigen direkten Bezug zum innersten Kern des Weltlebens wird Deutschland, wie es dies geographisch schon ist, so auch geistig und künstlerisch zu einem Reich der Mitte gestempelt; aber zu einem solchen, welches dem asiatischen Reich der Mitte gerade entgegengesetzt ist; denn nicht Zopf und Buchstabe, sondern Gesetz und Geist sollen in ihm regieren. Nur so kann seine sinkende Bildung wieder zu einer steigenden werden; und sich auch anderen Völkern gegenüber als eine solche bewähren.

„Charakter haben und deutsch sein, ist ohne Frage gleichbedeutend," sagt Fichte. Zu dieser ihm angebornen, jedoch im Laufe der Zeit vielfach verlorengegangenen Eigenschaft muß der Deutsche zurückerzogen werden. Eben in dem zerklüfteten Wesen, in jenem zentrifugalen Bestreben, welches dem Deutschen von jeher eigentümlich war, liegt seine Fähigkeit einer unendlich reichen und mannigfachen Ausstrahlung auf das Welt- und Menschheitsganze beschlossen. Je mehr es ihm gelingt, in dieser Hinsicht aus der Not eine Tugend zu machen, desto vollkommener wird er sein Dasein gestalten. Seine Neigung, individuell zu sein, dem eigenen Kopfe zu folgen, kurz die sprichwörtliche und politisch so oft nachteilig gewesene deutsche Uneinigkeit befähigt ihn ganz besonders, es auf künstlerisch-geistigem Gebiet weiter zu bringen als andere Völker. Individualismus ist die Wurzel aller Kunst; und da die Deutschen unzweifelhaft das eigenartigste und eigenwilligste aller Völker sind: so sind sie auch — falls es ihnen gelingt, die Welt klar widerzuspiegeln — das künstlerisch bedeutendste aller Völker. Bei keinem Volke der Welt findet man so viel lebende Karikaturen, wie bei den Deutschen; diese üble Eigenschaft hat aber auch ihre gute Kehrseite; sie zeigt, daß sie sehr bildungsfähig sind. Je ungeschliffener jemand ist, desto mehr ist an ihm zu schleifen; und desto höheren Glanz kann er erhalten. Die große Zukunft der Deutschen beruht auf ihrem exzentrischen Charakter. Aus dem gleichen Grunde kann ihre höchste Bildungsstufe nur eine kunsterfüllte sein; denn die höchste Bildungsstufe eines Volkes muß der tiefsten Seite seines Wesens entsprechen; und gesunder Individualismus ist, wie gesagt, die tiefste Seite des deutschen Wesens. Der Instinkt treibt sonach die gegenwärtigen Deutschen ganz richtig, wenn sie anfangen, mehr auf künstlerische Gestaltung als auf wissenschaftliche Forschung auszuschauen; aber eben dieser Instinkt sollte sich jetzt zum vollen Bewußtsein erhöhen und zur lebendigen Tat verwirklichen. Deutschland, das auf dem Gebiet der militärischen und sozialen Reform allen anderen europäischen wie außereuropäischen Staaten voranging, sollte dies nun auch auf dem Gebiet der künstlerischen wie geistigen Reform tun; und es kann dies tun, wenn es sich in rechter Art zu dem bekennt, was der Inhalt seines Seins, der Inhalt der Kunst, der Inhalt der Welt ist: Individualismus.

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