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Höhere Schulen für Jungen: Jugendjahre eines Gymnasiasten in der oberschlesischen Stadt Gleiwitz am Vorabend des Ersten Weltkriegs (Rückblick)

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Für mich war es eine in sich abgeschlossene Welt. Mein Elternhaus, mein Vater, der für seine Patienten lebte und Tag und Nacht für sie da war - wie oft gellte die Nachtglocke durchs Haus, um ihn zu Hilfe zu rufen, wie oft waren es nur ein paar Betrunkene, die sich die Köpfe blutig geschlagen hatten, häufig eine Geburtshilfe weit draußen auf dem Land –, meine Mutter, die mit unermüdlicher Liebe und Kraft für alles sorgte, und meine Geschwister. Daneben die Schar der Freunde, die fast täglich auf meiner 'Bude' zusammentraf, in Zigaretten- und Zigarrenrauch gehüllt gemeinsam in der fremden Syntax sich verlor oder mathematische Aufgaben für den nächsten Schultag löste, nicht zu vergessen die Mädchen der höheren Töchterschule, die wir bei dem täglichen Bummel auf der Hauptstraße mit unseren Frechheiten anödeten oder in hoffnungsloser Liebe mieden. So gingen die frühen Jugendjahre dahin, nur selten in ihrem sorglosen Ablauf durch Ferien im Riesengebirge unterbrochen, Reisen, nicht weiter als bis Hirschberg oder Glatz. Das Einkommen eines Arztes in dieser Gegend war nicht groß. Man mußte sparen, wenn man seine Söhne später auf die Universität schicken wollte. Es war ein bescheidenes Leben, ohne große Ansprüche an Kleidung oder Ernährung. Eine Apfelsine, eine Banane oder gar eine Ananasfrucht waren bereits ein Luxus, den man sich nur zu besonderen Gelegenheiten leistete.

Der Umkreis unserer Welt war eng begrenzt. Breslau war in dieser Zeit, da es für den gewöhnlichen Bürger noch kein Auto gab, ein ferner Großstadt-Klang; ich habe es nach dem Ende des Ersten Weltkrieges zum erstenmal gesehen. Berlin, Hamburg, Frankfurt, München schienen fast unerreichbar, so weit, wie für uns heute Moskau oder Peking sein mögen – oder sogar weiter entfernt. Fast nichts drang aus dieser Welt zu uns, und wir interessierten uns auch kaum für sie. Daß in Berlin eine soziale Umwälzung ihren Anfang genommen hatte, daß eine sozialdemokratische Partei für allgemeines Stimmrecht und soziale Gleichberechtigung kämpfte, daß eine moderne Literatur und ein kämpferisches Theater gegen die verstaubte Ideologie der herrschenden Kreise Sturm liefen, um mit jugendlichem Elan eine neue Welt der Freiheit und Humanität zu schaffen, alles das drang nicht zu uns.



Quelle: Gottfried Bermann Fischer, Bedroht – Bewahrt. Der Weg eines Verlegers. 2. Auflage. Frankfurt am Main, 1967, S. 12f und 15f.

Abgedruckt in Jens Flemming, Klaus Saul und Peter-Christian Witt, Hg., Quellen zur Alltagsgeschichte der Deutschen 1871-1914. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1977, S. 191-92.

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