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Otto Brahm, „Die Freie Volksbühne” (1890)

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Individuum, mit seinem tiefen Haß gegen die Lügen der Gesellschaft, dem sozialistischen Geist dennoch im Innern nahesteht. Und wenn auf der neuen Bühne der Auler in den »Stützen der Gesellschaft« fragen wird: »Wie darf das Kapital die neuen Erfindungen einführen, ehe die Gesellschaft sich ein Geschlecht erzogen hat, das sie gebrauchen kann?« – so wird mancher erst mit Erstaunen erkennen, wie ein großer Dichter, weil sein Blick alles umfaßt, Pathos des einzelnen und Leiden der Gesamtheit, auch in die unmittelbaren Interessen der Masse zu treffen weiß.

Aber werden denn die Arbeiterbataillone, deren Tritt man nun auch im Theatersaal hören soll, von diesen in die Tiefe greifenden Kunstwerken anderes als Bruchteile erfassen können, zufällige Fragmente, die ihrem Sinn grade sich erschließen? Ich wünschte, alle die so fragen, hätten der Versammlung vom Dienstag beigewohnt. Ich selbst, daß ich es nur gestehe, habe zu den Zweifelnden bis an diesen Tag gehört; und ich bin auch jetzt weit entfernt, zu glauben, daß etwa alle Geheimnisse Ibsenscher Kunst den Hörern der Freien Volksbühne sich sogleich aufschließen werden. So wenig, wie ich glaube, daß alle Hörer unserer Freien Bühne die Intentionen Ibsens und der anderen Naturalisten verstehen: ich sage verstehen, nicht lieben. Aber das meine ich allerdings, daß diese Freie Volksbühne ein beneidenswertes frisches, empfängliches und auf kein Vorurteil verstocktes Publikum haben wird; das sogenannte Kunstverständnis aber, die Geschmacksbildung, die nur Resultate der Schulung, nicht der Anlage sind, werden sie sich schon im Verlauf der Zeiten erwerben, diese Massen mit ihrer »geistigen Begehrlichkeit«.

Die Skeptiker hätten es nur sehen sollen, wie lebhaft diese Versammlung von zweitausend Menschen, Arbeitern, jungen Kaufleuten, Frauen, gegen jenen Redner reagierte, der ihnen den Geschmack an Ibsen verleiden wollte. Mit törichten Phrasen hatte er von den Stücken gesprochen, in denen »meist Gehirnerweichung« das Thema sei, hatte emphatisch gerufen: »Bei uns kommt so was natürlich nicht vor!« und hatte, ein Nichtsozialist, mit Lassalles »Sickingen« die Gründlinge im Parterre kapern wollen; aber nicht nur, daß ihm der geschulte Parteimann, Herr Baake, seinen »Bauernfang« derb verwies – auch aus der Mitte der Arbeiter kam der Widerspruch. Ein Mann trat auf, schlicht und im Werkeltagsrock, wie er aus der Fabrik kam, mit ungestärktem Hemd; Leiden malte sich auf seinen Zügen, und nicht leicht fand er die Worte. Aber rührend war es zu hören, wie nun dieser Arbeiter ein Programm entwickelte, das jeder von uns Naturalisten hätte unterschreiben können: Wir wollen nicht die ewige Lüge auf den Brettern sehen, rief er, wir wollen die Wahrheit erfahren über das Leben, und lieber das Schreckliche sehen, Laster und Krankheit, als daß wir uns einen blauen Dunst vormachen lassen von edlen Grafen, die mit Hundertmarkscheinen um sich werfen, und von Kommerzienräten. Und dies war das Wort, das wie ein Leitmotiv durch die Versammlung klang: Gebt uns Wahrheit! Nicht klassische und romantische Werke, realistische wollen wir haben, in denen der Wahrhaftigkeitsdrang und der feine Wirklichkeitssinn dieser Zeit sich ausdrückt; wir wollen das Leben sehen, wie es ist, nicht, wie es nicht ist!

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