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Richard Dehmel, „Predigt ans Großstadtvolk” (1906) and „Die neue Würde” (1903)

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Ein kluger Storch hob sacht ein Bein
und klapperte mit Bedacht: Nein, nein,
bester Herr Professor, es gilt auf Erden
nur immer einfältiger zu werden.
So erteilten die Tiere, große und kleine,
wilde und zahme im Vereine,
dem Herrn Professor ihren huldvollen Rat,
als plötzlich aus dem Gratulantenstaat
eine goldschmucke Paradiesvogelhenne
aufflog und gluckste: Wie ich dich kenne,
Freund Künstler, wirst du dir nun vorspiegeln,
du sollst unsre Göttin Natur verschniegeln,
und wirst deiner neuen Würde grollen
und immer rauhbeiniger werden wollen.
Und der Herr Professor knurrte was in den Bart
und sah wahrhaftig aus wie behaart
und streckte verbiestert alle Viere.
Da erschien zuletzt in seinem Quartiere
das wildeste und zahmste der Tiere:
ein Weib. Das sprach: Lieber Mann, deine Würde
ist freilich eine künstliche Bürde.
Aber wir Menschen treiben's eigentlich nie
so natürlich wie das übrige Vieh;
selbst die nackte Braut trägt an der Hand
ein Ringelein als züchtiges Pfand.
Sieh, mit unsern Kleidern, Zierden und Ehrenzeichen
will die alte Hexe Natur erschleichen,
daß sich ihr irdisches Maskenfest
nicht noch tierischer gehen läßt.
Drum, Künstler, laß dich ruhig verhimmeln;
und damit deine Anbeter nicht verlümmeln,
lern dich als würdiges Vorbild geberden,
denn der Mensch will — immer noch menschlicher werden.
Da hat der neue Herr Professor gelacht,
hat seiner Frau einen himmlischen Bückling gemacht
und sich sein göttliches Haupthaar geschoren.
Seit der Zeit sind die Herren Professoren
der deutschen Kunst-Akademien
nicht mehr als Trampeltiere verschrien.



Quelle: Richard Dehmel, „Die neue Würde“ (1903), in Gesammelte Schriften in drei Bänden. Berlin, 1913, Bd. 1, S. 106-09.

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