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Walther Rathenau, „Höre, Israel!” (1897)

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Doch ich weiß: es sind einzelne unter euch, die es schmerzt und beschämt, Fremde und Halbbürger im Lande zu sein, und die sich aus der Ghettoschwüle in deutsche Waldes- und Höhenluft sehnen. Zu ihnen allein spreche ich. Mögen die anderen, so viele oder wenige mich hören, ihres tausendjährigen Rechtes gedenken, zu verfolgen und zu verhöhnen, die ihnen helfen wollen. Ihr aber, ihr Minderzähligen, habt die schwere Aufgabe, die Abneigung eurer Landesgenossen zu versöhnen, ihr, die ihr doch – verzeiht mir! – so wenig geschaffen seid, euch Freunde zu machen. Dennoch wird es gelingen; und die Enkel der Indifferenten von heute werden euch folgen.

Ihr fragt, ob ich euch etwa zum Christentum zu bekehren denke?

Gewiß nicht.

»Zu dem Prediger in der Wüsten,
Wie wir lesen im Evangelisten,
Kamen auch die Soldaten gelaufen,
Taten Buße und ließen sich taufen.«

Als ich jüngst ein Verzeichnis der Mitglieder der jüdischen Gemeinde zu Berlin in die Hände bekam, machte es mir Freude, die altbekannten Namen zu durchblättern. Ja, die Freunde leben noch; die ganze altgläubige Zoologie, Mineralogie und Botanik ist vollzählig. Aber von der jüngeren Generation fand ich keinen Bekannten. Alle sind sie – nicht als Soldaten, sondern vorher – getauft worden und mögen jetzt samt und sonders Regierungsbeamte und Lieutenants sein.

Warum auch nicht? Zwischen dem Deismus eines liberalen evangelischen Geistlichen und dem eines aufgeklärten Rabbiners besteht kein Unterschied. Die christliche Sittenlehre ist dem gebildeten Judentum heute so selbstverständlich, daß man sich einredet, sie lasse sich aus dem Alten Testament abstrahieren. Eine Religion- und Gewissenssache ist also der Übertritt in den meisten Fällen nicht mehr. Bei den ältesten und reichsten Familien jüdischer Abstammung ist er teilweise schon vor Jahrzehnten erfolgt. Oft erinnert an den Glauben der Väter nur noch ein gewisser ironischer Atavismus des Äußeren, eine Malice Abrahams.

Aber ein Ende der Judenfrage ist die Taufe nicht. Wenn auch der einzelne durch die Lossagung sich bessere Existenzbedingungen schaffen kann: die Gesamtheit kann es nicht. Denn würde die Hälfte von ganz Israel bekehrt, so könnte nichts anderes entstehen als ein leidenschaftlicher »Antisemitismus gegen Getaufte«, der durch Schnüffeleien und Verdächtigungen auf der einen, durch Renegatenhaß und Verlogenheit auf der anderen Seite ungesunder und unsittlicher wirken würde als die heutige Bewegung. Die zurückgebliebene Hälfte aber, ihrer Spitzen beraubt, würde zu einer bildungunfähigen Masse zusammenschrumpfen. Es würde bei dieser Art der Aussonderung viel gutes Metall, vielleicht das beste, in die Schlacke gehen, denn gerade die Feinfühligsten entschließen sich zu einem ideellen Schritt am schwersten, solange ein materieller Vorteil häufig untrennbar damit verknüpft ist.

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