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Walther Rathenau, „Höre, Israel!” (1897)

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Ich wiederhole: Mit der wirtschaftlichen Frage, dem eigentlichen Gebiet des sogenannten Antisemitismus, will ich mich hier nicht befassen. Noch lange, fürchte ich, werden die unteren Klassen des Judentumes auf das Gewerbe des Handels angewiesen sein. Es ist natürlich und berechtigt, daß, wie jede einseitige Bestrebung, so auch der Handel und vornehmlich seine typischsten Mitgänger eine Gegenkraft und Opposition erwecken. Dieser Vorgang hat eine mehr merkantile als kulturelle Bedeutung. Den Kern der gesellschaftlichen Frage sehe ich aber nicht im wirtschaftlichen Interesse einzelner, wenn auch ausgedehnter Kreise, sondern in der fast leidenschaftlichen Abneigung der uninteressierten Mehrheit. Und diese gesellschaftliche Frage droht in allen Ecken des Reiches. Sie schwirrt durch die Schulstuben und Kollegiensäle; sie läuft durch die Straßen und mustert die Ladenschilder; sie rumort in den Geschäftsräumen und Werkstätten; sie steigt die Vordertreppen der Häuser vorsichtig hinauf und kichert die Hintertreppen hinab; sie nistet in den Polstern der Eisenbahncoupés und präsidiert an den Wirtstafeln; sie spreizt sich auf den Kasernenhöfen und klopft an die Türen der Gerichtssäle.

Wer sucht ihr heute ernstlich die Antwort? Dem Stammesdeutschen ist die Frage so zuwider wie ihr Gegenstand. Er ist zufrieden, wenn das schwärzliche Volk ihm vom Leibe bleibt. Um ihre Zukunft sich zu kümmern, hat er keine Veranlassung. Gelingt die Assimilation doch kaum mit Polen und Dänen. Und was tut Israel, um vom Banne befreit zu werden? Weniger als nichts. Für auserwählter als andere Leute haltet ihr euch freilich nicht mehr – kaum noch für schlauer. Aber mit dem, was an euch bleibt, deucht ihr euch über alle Kritik erhaben. Meint ihr, der alte Stammesgott werde seinen König Messias senden, um euch zu helfen? Ach, es ist euch nicht aufgefallen, daß er seit ein paar tausend Jahren sich mit euch nichts mehr zu schaffen gemacht hat! Der Herr des Zornes und des Sieges hatte an einem Volke von Kriegern Gefallen; für ein Volk von Krämern und Maklern interessiert er sich nicht. Der auf Horeb und Zion thronte, zieht nicht nach der Rosenthalerstraße noch nach der Heidereutergasse. Ihr sprachet, ihr Schlauen und Weltgewandten: »Wer den Reichtum besitzt, der hat die Macht.« Nun habt ihr den Reichtum – und eure Reichen sind weniger geachtet als eure Armen. Eure Redekunst war eitel und eure Agitation umsonst. Vereine habt ihr gegründet – zur Abwehr, anstatt zur Einkehr. Den Besten unter euch habt ihr das Leben zuwider gemacht, so daß sie euch den Rücken kehrten, und als sie abtrünnig wurden, habt ihr nichts vermocht, als sie zu verwünschen; daher kommt es, daß es ihnen gut geht. Schreiet nicht nach Staat und Regierung. Der Staat hat euch zu Bürgern gemacht, um euch zu Deutschen zu erziehen. Ihr seid Fremde geblieben und verlangt, er solle nun die volle Gleichberechtigung aussprechen? Ihr redet von erfüllten Pflichten: Kriegsdienst und Steuern. Aber hier war mehr zu erfüllen als Pflichten: nämlich Vertrauen. Man redet viel vom Rechte des Schwächeren; dies Recht besteht, aber es läßt sich nicht ertrotzen. Keinen Stein wird man euch wegräumen und keinen Schritt ersparen. Wollt ihr aber, in eure Stadtviertel verschanzt, weiter mit falschen Märtyrerkronen stolzieren – nur zu, man wird euch nicht wehren.

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