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Friedrich Naumann: „Was heißt Christlich-Sozial?” (1894)

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Während nun die Organisationsfrage Spezialisierung des Studiums und der Agitation fordert, bleibt ein Komplex von Problemen, der alle Volksteile gleichmäßig angeht und der darum in allen Einzelorganisationen möglichst gleichmäßig behandelt werden muß. Diesen Komplex von Problemen nennen wir die Kapitalfrage. Hier ist es, wo wir der Sozialdemokratie fatalistischen Optimismus vorwerfen. Der bürgerliche Liberalismus hatte bekanntlich den Grundsatz des laissez aller, laisser passer. Diesen Grundsatz erbte die Sozialdemokratie und formulierte ihn etwa so: je mehr man der Konzentration des Kapitals freien Spielraum läßt, desto schneller wirtschaftet das kapitalistische System ab, darum sind wir prinzipielle Freihändler und stören Rothschild und Genossen nicht bei ihrem Werke, das durch Gunst des Fatums (wir wissen nicht warum, aber es muß so sein) im Grunde unseren Wünschen dienen muß. In diesem Wachsenlassen des Kapitals liegt einesteils die Kraft und anderenteils die Schwäche der Sozialdemokratie; die Kraft: weil jeder große Optimismus Menschen heranzieht, weil diese Lehre eine Stimmung zu erzeugen imstande ist, die der Stimmung mancher religiösen Sekten ähnlich ist, welche alle Hoffnung auf einen großen Tag des Zorns und der Wonne setzen und sich mutig durch die Alltäglichkeit winden, da ja schon die Morgensterne des tausendjährigen Reiches am Himmel stehen; die Schwäche: weil eine solche Stimmung nicht länger als ein Menschenalter dauern kann. Die bürgerliche Welt ist nicht so gebrechlich, wie man es ihr nachsagt, die Expropriation der Expropriateure vollzieht, die Konzentration der Betriebe entwickelt sich nicht mit der schnellen Sicherheit eines mathematischen Prozesses, kurz, die Sozialdemokratie kommt, je länger desto mehr, in Schwierigkeiten, wenn sie an ihrer Auffassung der Kapitalfrage festhält. Diese Schwierigkeiten werden nun in doppelter Weise brennend. Zunächst sind es Gesetzesanträge von konservativ-antisemitischem Standpunkt aus, die dem Kapitalismus, wenn auch vorläufig in sehr schwächlicher Weise, zu Leibe gehen wollen. Der einfache Menschenverstand stimmt, nach dem Sprichwort, daß der Sperling in der Hand besser ist als die Taube auf dem Dache, für Wuchergesetz und Börsensteuer. Wenn die Sozialdemokratie treu bei ihrer Lehre bleibt, muß sie beide Arten von Gesetzen a limine verwerfen, sie muß alle diese „Palliativmittelchen" stolz verachten [ . . . ]

[ . . . ] Dazu kommt das zweite Moment, Arbeitslosigkeit und Kapitalkonzentration stehen in einem bestimmten Verwandtschaftsverhältnis. Die Zahl der Arbeitslosen wächst mit dem Großgelde, d. h. mit der Höhe der nicht konsumierten Jahreseinnahmen. Nun ist es ja möglich, daß auch die Arbeitslosigkeit als notwendige Schattenseite der korrekten Entwicklung der Dinge in das System eingeordnet wird, aber weniger möglich ist es für eine Partei, die den Elendesten dienen will, auf Jahrzehnte hinaus die Arbeitslosen mit dem System zu trösten. Die Hunderttausende der Arbeitslosen werden mit steigender Deutlichkeit gegenwärtigen praktischen Antikapitalismus verlangen, damit sie leben können. Wenn dieser Antikapitalismus sich nicht in Gestalt einer politischen Partei bietet, muß bei ihnen praktischer Anarchismus eintreten.

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