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Friedrich Naumann: „Was heißt Christlich-Sozial?” (1894)

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Ich habe öfter die Frage zu beantworten: Was sollen wir studieren, um in Ihrem Sinne arbeiten zu können? Wo diese Frage von jemand gestellt wird, der bereit ist, etliche Jahre seines Lebens an das Studium und sein ganzes Leben an das Resultat dieses Studiums zu wagen, da gebe ich im Grunde keine andere Antwort als „Marx und Christus". Man hat mir das verdacht und gesagt, ich solle in erster Linie Roscher, Wagner, Brentano nennen. Wie wertvoll mir die bürgerliche Nationalökonomie ist, werde ich später auszusprechen Gelegenheit haben, aber an dieser Stelle möchte ich es als Erfahrungssatz hinstellen, daß man von der bürgerlichen Wirtschaftslehre aus nur schwer den prinzipiellen Standpunkt findet, der alles im Sinne Jesu, im Sinne der armen Brüder betrachtet. Diejenigen Fragesteller, die sich an mich wenden, sind ja keine Aspiranten für rein akademische Volkswirtschaftslehre, sondern es sind junge Männer, die praktische Christlich-Soziale werden wollen. Ein Christlich-Sozialer aber, der nicht Professor werden will, braucht nicht über alles Detail im reinen zu sein, er muß aber etwas von dem an sich erfahren haben, was die Leineweber und Maurer von uns an ihrem Geiste erlebten. Es ist auch, wie ich zugebe, der Weg nicht ganz ungefährlich. Es ist nicht ausgeschlossen, daß da und dort ein junger Freund von Marx so umsponnen wird, daß er Christum aus den Augen verliert. Aber wo etwas geleistet werden soll, ist immer Gefahr. Wer den jungen Leuten zuruft: Schließt eure Augen, wenn ihr Marx vorübergehen seht! der kann recht liebe Menschen erziehen, aber keine Männer, die hart genug sind für den Kampf, der uns bevorgeht. Wen wollen wir denn schließlich gewinnen? Doch gerade das Volk, das heute schon sozialdemokratisch ist oder es morgen wird. Wie aber sollen wir das können, wenn wir eben dieses Volk und seine Zeitungen, Broschüren, Versammlungen nicht an uns selbst erlebt haben? [ . . . ]

Wir glauben, daß die „soziale Frage“, wenn sie sich weiter entwickelt, zunächst in zwei große Fragen zerfallen wird: die Kapitalfrage und die Organisationsfrage. In der Organisationsfrage hat auf dem Gebiete der Industriearbeiter die Sozialdemokratie Großes geleistet. Die Gewerkschaften und Fachvereine sind auch in unseren Augen wertvolle Bausteine der Zukunft. Auch scheint die organisierende Kraft der Sozialdemokratie keineswegs erschöpft zu sein. Wir trauen ihr zu, daß sie auch die Organisation der Handelsangestellten fertig bringen wird. Ob es die Sozialdemokratie sein wird, welche die Landleute organisiert, oder ob das zunächst von den Antisemiten geschehen wird, wissen wir nicht. Daß man auf die Formel des Antisemitismus hin nicht ganze Volksteile dauernd organisieren kann, ist wohl klar; aber immerhin läßt sich eine Mischung von konservativen, marxistischen und antisemitischen Gedanken denken, welche längere Zeit hindurch eine Volksgruppe beschäftigt, die bisher unter konservativen Fittichen geschlafen hat. Sicher ist, daß die Christlich Sozialen der Organisationsbewegung an sich die größte Aufmerksamkeit schenken müssen, mag sie geleitet sein, von wem sie wolle.

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