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Armut unter der älteren Landbevölkerung (1906)

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In der „Königsberger Volkszeitung“ vom 25. August 1906 wird die Angelegenheit Specht behandelt. Jemand, der an Ort und Stelle Beobachtungen gemacht hat, berichtet dem Blatte:

„Dem Specht sieht man schon von weitem an, daß er ein gänzlich hinfälliger Mann ist. Er sieht viel älter aus als er ist. Auf einem Auge ist er gänzlich erblindet; auf dem anderen sieht er mittels einer Brille nur nebelhaft. Specht hat ferner einen großen Bruch, ist blasenleidend, und trägt einen von der Ortsgemeinde angeschafften Gummischlauch bei sich, um sich das Wasser abzuziehen. Außerdem ist Specht nierenleidend. Bei der Ehefrau des Specht hat der Arzt noch vor 14 Tagen auf beiden Augen den Star festgestellt. Die Frau ist auch sonst körperlich hinfällig.

Und Christine Specht? Sie ist lungenkrank und seit Jahren wegen Invalidenrente eingekommen. Trotzdem sie ziemlich 11 Karten vollgeklebt hat, bekommt sie keine Rente, weil sie im Sinne des Gesetzes nicht arbeitsunfähig sein soll. Im mündlichen Verhandlungstermin am 6. Mai 1904 vor dem Schiedsgericht in Danzig wurde ihre Sache vertagt, um Christine Specht eine angemessene Zeit im Krankenhause beobachten zu lassen. Nach dieser Beobachtung, vom 30. Mai bis 29. Juni 1904, ist sie von Dr. Jakobi und Dr. Freumuth wie bereits vorher, am 23. März 1904 vom Kreisarzt Dr. Arbeit-Marienburg, zwar als lungenkrank, aber noch nicht als invalide im Sinne des Gesetzes angesehen. Nach der Zeit behauptet das Mädchen, nicht mehr ärztlich untersucht worden zu sein. Wie es weiter behauptet, hat sich ihr Lungenleiden während der beiden Jahre nach der Untersuchung verschlimmert.

Das Mädchen sieht schlaff und gelblich im Gesicht aus. Sie atmet schwer und man hört ein Geräusch dabei, wie bei solchen Personen, die an Asthma leiden. Warum man das Mädchen für arbeitsscheu hält, ist uns nicht recht verständlich. Das Wohnen im Armenhause dürfte kaum verlockend sein. Interessant wäre es gewesen, wenn man angegeben hätte, welche landwirtschaftlichen Arbeiten der halb erblindete kranke Mann wohl noch ausführen könnte.“



Quelle: Socialdemokratische Partei-Correspondenz, Berlin, 1 (1906), S. 140f.

Abgedruckt in Jens Flemming, Klaus Saul und Peter-Christian Witt, Hg., Quellen zur Alltagsgeschichte der Deutschen 1871-1914. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1997, S. 181-83.

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