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Elisabeth Flitner, „Auf dem Katheder brannte frühmorgens eine Kerze” (Rückblick)

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Die Schule war schon in früher Jugend so etwas wie ein Traumziel. Es ist mir noch ein Singsang im Ohr: »Ostern – Ostern – übers Jahr – komm ich in die Schule«, womit mir die Kinderfrau wohl den Zeitraum zwischen meinem und dem Schuleintritt meiner drei Jahre älteren Schwester überbrücken wollte. An keine Zeit meiner Kindheit habe ich so deutliche Erinnerungen wie an das erste Schuljahr. Die Erlebnisse sind geeignet, den Unterschied zu heute zu zeigen.

Der Arzt hatte mich »blutarm« befunden und einen Gebirgsaufenthalt angeraten. So nahmen mich die Eltern in den Ferien mit nach Neuhaus am Renstieg. Es war meine erste Reise mit der Eisenbahn. Bei den Mahlzeiten an der großen Table d'hôte waren etwa zwanzig Erwachsene, aber kein anderes Kind. Auch auf der Straße spielten keine Kinder. Mit Erstaunen sah ich in den schwarzen, mit Schiefer beschlagenen Häuschen hinter kleinen Fenstern Kinder meines Alters an großen Tischen sitzen und in Heimarbeit weiße und rosa Perlen zu Ketten auffädeln.

Genau erinnere ich mich auch an den ersten Kirchgang, wo darüber gepredigt wurde, daß ein Mann in einem Gewässer zu schwimmen versuchte, das von Schlingpflanzen durchwachsen war, so daß er sich darin verstrickte und unterging.

Einmal – das einzige Mal in meiner Kindheit – war ich in einer Konditorei mit meiner Mutter, an einem runden Marmortisch sitzend, eine goldgeränderte geschwungene Tasse mit Schokolade und Schlagsahne vor mir. Am nächsten Tag bekam ich Scharlach, wurde im Hause isoliert, von einer Krankenschwester in Tracht gepflegt und habe, als es mir besserging und mein Bruder krank zu mir ins Zimmer kam, bei ihm aus Andersens Märchen lesen gelernt.

Zu meinem sechsten Geburtstag bekam ich ein kurzärmeliges Kleid aus kariertem Kattun, das ich sommers und winters – aber nur für die Schule – tragen sollte, eine ärmellose schwarze Schulschürze, hohe schwarze Knöpfstiefel und einen ledernen Schulranzen mit Fibel, Griffelkasten und Schiefertafel, an die ein Schwamm und ein Tüchlein gebunden waren, die aus dem Ranzen heraushingen.

In den ersten Tagen wurde ich nachdrücklich vor drei Gefahren auf dem Schulweg gewarnt – ich dürfe nicht über unsere Brücke gehen, wenn ein Fuhrwerk darauf war, denn es kam vor, daß die Pferde durch einen in der Tiefe rollenden Eisenbahnzug scheu wurden und wild davonrasten; ich sollte den Jungen vom Eisengeschäft aus dem Wege gehen, weil sie den »affigen« Mädchen auflauerten und sie zu verhauen suchten; vor allem aber müsse ich darauf achten, von der elektrischen Straßenbahn nicht überfahren zu werden, denn sie könne nicht plötzlich bremsen oder ausweichen.

Die Stadt hatte erst kurz zuvor ein Elektrizitätswerk bekommen. Es dauerte noch lange, bis die Elektrizität, zunächst nur für Beleuchtung, in die Häuser geleitet wurde. Alle heute unentbehrlichen Hausgeräte, Staubsauger, Waschmaschine, Kühlschrank, elektrisches Bügeleisen und vieles andere mehr, waren in meiner Kindheit unbekannt. Vor Autos brauchte ich nicht gewarnt zu werden. Das erste Auto und jahrelang das einzige gab es in Jena erst 1905.

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