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Helene Stöcker, „Die moderne Frau” (1893)

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den sie brauchen könnte, noch nicht geboren ist – wenigstens hat er sich ihr nie auf irgendeine Weise verraten –, schenkt sie ihren Reichtum andern: sie betet die mütterliche Freundin an, die dem temperamentvollen Kinde zuerst einen Schimmer von Verständnis gezeigt – sie umfängt mit aller Glut erster noch unklarer Leidenschaft irgendein holdes, junges Geschöpf, das ihr dafür – halb geschmeichelt, halb verwirrt, die heiß ersehnte Freundschaft schenkt. Sie erzieht ihre Geschwister, ihr ähnlich in Temperament und Intelligenz, mit mehr als mütterlichem Stolz: sie sieht in ihnen ja die mit ihr streitende, weltüberwindende Zukunft – und endlich lebt sie in innigster Gemeinschaft mit gleichfühlenden, gleichstrebenden Genossinnen.

So ist es ihr möglich geworden, trotz der längst grausam klaren Erkenntnis: »Lieben muß ich, da ich lebe« durch die allererste, leidenschaftliche Jugendzeit durchzukommen – ohne der Gefahr zu erliegen, in ihrem starken Liebesbedürfnis sich an irgendeinen Mann wegzugeben, der doch nie »ihr« Mann sein kann. Aber nun sie frei und unabhängig mitten im Herzen der Weltstadt lebt – nun ihr das, was sie glühend begehrte: Leben im Verkehr mit geistig ebenbürtigen Menschen – in reichem Maße zuteil geworden – nun hat sie eine merkwürdige Erfahrung gemacht. Bisher hat sie immer die Frau im allgemeinen für das konservative Element gehalten – aber nun muß sie lernen, daß der Mann in bezug auf die Frau noch viel konservativer ist, daß er in Hirn und Nerven nicht nur die Tradition seiner Großeltern, sondern seiner Urgroßeltern hat, und daß selbst die »Neuen, Freien« von der Frau nur die Dirne und die Hausfrau im ältesten, spießbürgerlichsten Sinne kennen – und darum ein etwas – hm – verdutztes Gesicht machen, wenn sie ernsthaft mit ihnen über die Kreutzersonate reden will. Sie hat die ernüchternde Erfahrung gemacht, daß das Moderne, Zukunftsfrohe den Frauen gegenüber noch graueste Theorie ist, und daß auch die Allermodernsten in der Praxis die ärgsten Philister sind, die ihre eigenen Ideen nicht ernst nehmen.

Sie stellt freilich auch eine Forderung, die bis dahin noch nie gestellt worden: Sie läßt sich nicht mehr die Beleidigungen des Ballsaals gefallen, und sie will auch nicht als Mannweib betrachtet werden – ja, sie ist ein anspruchsvolles Geschöpf! Ein Weib will sie sein – Liebe nehmen und Liebe geben und doch nicht mehr in ehrfürchtigem Schweigen lauschen, wenn kluge Männer sprechen?! Nein, nein, für solch ein Geschöpf ist überhaupt noch keine Formel gefunden – – und doch – ich weiß es ganz genau: Alles Heil, das eine sehnsüchtig harrende Zeit von einem zukünftigen Erlöser erwartet, muß vom Weib ausgehen – dem Weib, das sich allen Männern zum Trotz – aus eigner Kraft zu einem Menschen durchgerungen!

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