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Konsumkultur: Berliner Warenhäuser (1908)

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Jede Großstadt nimmt eben eine ihrem Charakter und ihrer Individualität entsprechende mehr oder weniger schnelle Entwicklung. Berlin, die jüngste der europäischen Weltstädte, hat ein so rapides Wachstum durchgemacht, daß selbst aufmerksamen Beobachtern manche Symptome und Momente entgangen sind, die gerade als ein für das Aufblühen Berlins besonders markantes Zeichen zu gelten haben. Die Entwicklung des Berliner Westens ist z. B. eines dieser Probleme; Bei der gewaltigen Expansion, die unsere Spreemetropole vom Zentrum aus genommen hat, wird sich mancher Geschäftsmann unwillkürlich kopfschüttelnd gefragt haben, wie diesem Wachstum Rechnung getragen werden könne. Die Tatsache nun, daß im Westen ein neues weltstädtisches Zentrum in Bildung begriffen ist, wird wohl kaum noch geleugnet werden. Es wird kein Ausläufer werden, in dem sich das Hasten und Treiben des alten Berlin mehr oder weniger stark widerspiegelt, sondern ein durchaus unabhängiges, elegantes, vornehmes, nicht minder geschäftiges Berlin entsteht hier, mit der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche als gegebenem Mittelpunkt, und schafft sich hier in größerem Stile, durch keine Platzfrage beengt, neue Möglichkeiten zur Befriedigung seiner Bedürfnisse. Wer die Entwicklung Berlins während der letzten Jahre aufmerksam verfolgt hat, die geschäftliche Erschließung der oberen Leipzigerstraße miterlebte, wird sich klar darüber sein, daß Berliner Leben und Berliner Verkehr immer mehr nach Westen gravitieren. Speziell der Teil, die Straßenzüge, die von der »Romanischen Ecke« ausgehen, waren ihrer Anlage und ihrer Bauart nach berufen, Großstadt und Eleganz harmonisch zu verbinden, und dem Westen Berlins ein besonderes Cachet zu geben. Schon heute ist die Tauenzienstraße eine moderne Geschäftsstraße, die in nichts der Leipzigerstraße nachstehen wird, sobald erst alle Pläne, die in ihrem Zuge gemacht worden sind, verwirklicht sein werden. Mehr und mehr wird sie aus der vornehmen Wohnstraße, in der nicht wenige unserer Finanz-, Geistes- und Kunstgrößen ihre Tuskula aufgeschlagen, zur Verkehrsader dieses Westens. Kaum gebaute Häuser fallen der Spitzhacke zum Opfer, um Warenpalästen Platz zu machen. Läden werden eingebaut, und die großen Firmen des alten Westens errichten in weiser Erkenntnis der Entwicklungsfähigkeit dieses Stadtteiles Filialen; die ruhigen Wohnpaläste werden im unteren Teile Handelsstätten und Bazare; mit einem Schlage ist die Physiognomie des ganzen Straßenzuges verändert. Nicht zum wenigsten hat der gewaltige Bau des Kaufhauses des Westens am Wittenbergplatze dazu beigetragen, der ganzen Gegend ein anderes Gesicht zu geben.

Kleine Geschäftsleute und Firmen, die sich zu schwach fühlen und nicht Großzügigkeit genug besitzen, um neben dem Kaufhause sich entwickeln zu können, haben die Gegend verlassen. Neue weltstädtische Firmen sind an ihre Stelle getreten, nicht zum Schaden des dortigen Publikums, das gerade in dieser Beziehung Ansprüche zu stellen gewöhnt und berechtigt ist. Hier weht Weltstadtluft. Zahlreiche Amerikaner, Engländer, Franzosen, Italiener, ja selbst Asiaten haben sich hier niedergelassen und bevölkern die eleganten, teilweise ganz englisch oder amerikanisch eingerichteten Boardinghouses und Pensionen. Theater werden gebaut. Alle Plätze bekommen Merkmale, die Ecksteine des Aufblühens ihrer Umgebung sind.



Quelle: Leo Colze, Berliner Warenhäuser. Leipzig und Berlin, 1908, S. 9-13.

Abgedruckt in Jürgen Schutte und Peter Sprengel, Die Berliner Moderne 1885-1914. Stuttgart, 1987, S. 104-10.

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