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Die „Feudalisierung des Bürgertums”? Teil II: Heinrich Mann, Der Untertan (1918)

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Wiebel machte eine Pause. Diederich zog die Absätze zusammen:

„– in Erfahrung gebracht habe, ist noch nicht für die Öffentlichkeit reif. Ich will nur bemerken, daß der gestrige Ausspruch Seiner Majestät, die Nörgler möchten gefälligst den deutschen Staub von ihren Pantoffeln schütteln, eine verteufelt ernst zu nehmende Warnung war.”

„Tatsächlich? Sie glauben?” sagte Diederich. „Dann ist mein Pech wirklich skandalös, daß ich gerade jetzt aus dem Dienst Seiner Majestät scheiden mußte. Ich darf sagen, daß ich gegen den inneren Feind meine volle Pflicht getan haben würde. Auf die Armee, soviel weiß ich, kann der Kaiser sich verlassen.”

Er war in diesen naßkalten Februartagen des Jahres 1892 viel auf der Straße, in der Erwartung großer Ereignisse. Unter den Linden hatte sich etwas verändert, man sah noch nicht, was. Berittene Schutzleute hielten an den Mündungen der Straßen und warteten auch. Die Passanten zeigten einander das Aufgebot der Macht. „Die Arbeitslosen!” Man blieb stehen, um sie ankommen zu sehen. Sie kamen vom Norden her, in kleinen Abteilungen und im langsamen Marschschritt. Unter den Linden zögerten sie, wie verwirrt, berieten sich mit den Blicken und lenkten nach dem Schloß ein. Dort standen sie stumm, die Hände in den Taschen, ließen sich von den Rädern der Wagen mit Schlamm bespritzen und zogen die Schultern hoch unter dem Regen, der auf ihre entfärbten Überzieher fiel. Manche von ihnen wandten die Köpfe nach vorübergehenden Offizieren, nach den Damen in ihren Wagen, nach den langen Pelzen der Herren, die von der Burgstraße herschlenderten; und ihre Mienen waren ohne Ausdruck, nicht drohend und nicht einmal neugierig, nicht, als wollten sie sehen, sondern als zeigten sie sich. Andere aber ließen kein Auge von den Fenstern des Schlosses. Das Wasser lief über ihre hinaufgewendeten Gesichter. Ein Pferd mit einem schreienden Schutzmann trieb sie weiter, hinüber oder bis zur nächsten Ecke – aber schon standen sie wieder, und die Welt schien versunken zwischen diesen breiten hohlen Gesichtern, die fahler Abend beschien, und der starren Mauer dort hinten, auf der es dunkelte.

„Ich begreife nicht”, sagte Diederich, „daß die Polizei nicht energischer vorgeht. Das ist doch eine unbotmäßige Bande.”

„Lassen Sie's gut sein”, erwiderte Wiebel. „Die Schutzleute sind genau instruiert. Die Herren da oben haben ihre wohlüberlegten Absichten, das können Sie mir glauben. Es ist nämlich gar nicht immer zu wünschen, daß derartige Fäulniserscheinungen am Staatskörper gleich anfangs unterdrückt werden. Man läßt sie ausreifen, dann macht man ganze Arbeit!”

Die Reife, die Wiebel meinte, kam täglich näher, am Sechsundzwanzigsten schien sie da. Die Demonstrationen der Arbeitslosen sahen zielbewußter aus. In eine der nördlichen Straßen zurückgetrieben, quollen sie aus der nächsten, bevor man ihnen den Weg abschneiden konnte, verstärkt wieder hervor. Unter den Linden vereinigten sich ihre Züge, rannen, sooft sie getrennt wurden, wieder zusammen, erreichten das Schloß, wichen zurück und erreichten es noch einmal, stumm und unaufhaltsam wie übergetretenes Wasser. Der Wagenverkehr stockte, die Fußgänger stauten sich, mit hineingezogen in die langsame Überschwemmung, worin der Platz ertrank, in dies trübe und mißfarbene Meer der Armen, das zäh dahinrollte, dumpfe Laute heraufwälzte und wie Maste untergegangener Schiffe die Stangen mit den Bannern hinaufreckte: „Brot! Arbeit!” Ein deutlicheres Grollen, ausbrechend aus der Tiefe, jetzt drüben, jetzt hier: „Brot! Arbeit!” Anschwellend über die Menge hinrollend, wie aus einer Gewitterwolke: „Brot! Arbeit!” Eine Attacke der Berittenen, ein Aufschäumen, Zurückfließen, und Weiberstimmen im Lärm, schrill, gleich Signalen: „Brot! Arbeit!”

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