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Ludwig Bamberger über die Verlängerung des Sozialistengesetzes (1884)

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Man glaubt, er sei tief unglücklich und bereite etwas Böses vor. Hänel, Rickert, Stauffenberg und ich gehen in den Kaiserhof und zerbrechen uns in Niedergeschlagenheit die Köpfe, was er im Schilde führen möge. Hänel besonders fürchtet einen coup de tête und steckt die andern an. Die Fraktion ist auf den folgenden Abend (Freitag) festgesetzt.

Am andern Morgen (Freitag) sieht Richter schon viel zahmer aus.

Ich frage ihn, was sein Schweigen bedeutet habe: ob Diplomatie oder Protest?

Er: Er habe selbst in der Aufregung keinen übereilten oder heftigen Ausspruch tun wollen, spricht aber jetzt schon viel zahmer, und durch Commun accord beschließen wir, die Fraktionssitzung auf den folgenden Mittwoch abend (Vorabend der 2. Lesung im Pleno des Reichstags) zu verlegen. Bis dahin verspricht er mir, auch vor der Fraktion seine Karten darüber aufzudecken, wie er sich in der Fraktion benehmen will. Die Sache läßt sich schon zahmer an. –

Am Montag, 5. Mai, kommen wir – Richter, Stauffenberg, Rickert, Hoffman und Baumbach – wieder zur Beratung zusammen, und nun holt Richter ganz kühl einen Zettel hervor mit Wahrscheinlichkeitsberechnungen, wieviel Stimmen unsere Fraktion liefern müßte, damit das Gesetz angenommen werde. Er meint, man brauche 25, und entwickelt nun in der unschuldvollsten Offenherzigkeit, daß es, wenn doch einmal manche sich enthalten wollten, viel besser sei, sie stimmten für. Kurz: Es gab keinen eifrigeren Werber für die Annahme, und der Sicherheit halber trifft er noch Anstalten, daß etliche, die gegen stimmen wollten und müßten, weggeschickt, alle Für-Stimmenden herbeigeholt würden. Eine solche naive Umkehr von der Entrüstungskomödie zur entgegengesetzten Arbeit hat man wohl nie erlebt. Stauffenberg und ich guckten uns stets an wie die Verzauberten.

Schließlich ließ er noch durch Hermes etliche Getreue, die kommen wollten, abwiegeln, damit sie zu Hause blieben, ja den dicken Schwarz aus Württemberg, der schon im Hause war, wieder fortschicken. Eine Bouffonnerie ohnegleichen. Das zeigt, wie nützlich die Fusion war. Wären wir getrennt geblieben, so hätten wir die Kosten bezahlen müssen, und er hätte an der Spitze seiner Partei das Triumphlied über die armen Sünder angeschlagen, die ihn aus der Verlegenheit retteten, die mit der Auflösung verbunden gewesen wäre. Aber solche Antidosis braucht man gegen Bismarcksche Politik. –

Als wir heimwärts gingen, wiederholte Stauffenberg einmal übers andre: »Das war ein Schauspiel, das man sich aufschreiben muß.«



Quelle: Bismarcks großes Spiel. Die geheimen Tagebücher Ludwig Bambergers. Frankfurt am Main, 1932, S. 290-94.

Abgedruckt in Gerhard A. Ritter, Das Deutsche Kaiserreich 1817-1914. Ein historisches Lesebuch. 5. Auflage. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1981, S. 112-14.

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