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Ein Arbeiterkind in einer Stadt im Harz über das Auslaufen des Sozialistengesetzes (30. September 1890)

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Da erhob er sich. Er hatte einen kleinen Zettel vor sich liegen und sah noch einmal darauf, dann fing er an zu sprechen. Er nannte die Anwesenden Freunde und sagte, nun sei die Stunde gekommen, die alle so lange ersehnt hätten. Mit dem Glockenschlag um zwölf breche ein Regiment zusammen, das die Arbeiterklasse in Fesseln geschlagen habe. Viel Unglück habe es über die wenigen Getreuen gebracht, und oft habe es ausgesehen, als ob der Geist der Freiheit zertreten werden sollte, aber schließlich habe man über alle Gewalt triumphiert. Aber hätte es anders sein können? Auch die ersten Christen habe man verfolgt, geächtet und getötet, aber den Geist habe man nicht töten können, der sei lebendig geblieben und habe sich die Welt untertan gemacht.

Je länger Lambert Schmitt sprach, umso mehr merkte man, daß ihm das Reden schwer fiel, und die Leute an unserem Tische fragten sich leise, was das wohl heute mit ihm sei. Bald kamen die Worte nur noch mühsam aus seinem bärtigen Munde, er blickte wie hilfesuchend umher, schwieg dann und setzte sich nieder.

Die Gesellschaft aber kannte Lambert genau und wußte, daß ihn nur die innere Bewegung übermannt hatte. Auch ihn hatte die Hand des Gesetzes schwer getroffen, lange Zeit war er gehetzt worden, ehe er in unserer Stadt ein Bleiben fand, und hier hatten ihm Anstrengungen und Mangel hart zugesetzt.

Nun war die Zeit erfüllt, und da verstand man, daß dieser kranke Mann in seiner Ergriffenheit die Herrschaft über das Wort verlor, das er sonst so trefflich meisterte.

Aber gerade im Augenblick des betroffenen Schweigens der ganzen Gesellschaft schnarrte die alte Wanduhr los und ließ rasselnd zwölf Schläge hören. Da schwiegen alle – ganz still war es, nur der Atem der vielen Menschen ging schwer durch den Raum.

Als die Schläge verklungen waren, erhob sich alles, und gleichzeitig brach ein Jubel los, der in seinem Zusammenklang wie ein einziger, langer, tiefer Schrei durch die Stube brauste. An den Tischen reichte man sich die Hände, viele umarmten sich, die Rufe tönten durcheinander, alle Augen glänzten. Ich stand hinter meinem Bruder, preßte dessen Arm, und mein Herz klopfte rasch und heftig. Eine Gruppe umringte Lambert Schmitt, der nun lächelte und die vielen Hände drückte, die sich ihm entgegenstreckten.

Nur die beiden Polizeidiener saßen unbewegt an ihrem Tische, hatten den Helm aufgesetzt und wußten nicht, was dort vor ihren Augen geschah.



Quelle: August Winnig, Frührot. Ein Buch von Heimat und Jugend. Stuttgart-Berlin,1924, S. 188-94.

Abgedruckt in Gerhard A. Ritter und Jürgen Kocka, Hg., Deutsche Sozialgeschichte 1870-1914. Dokumente und Skizzen, 3. Aufl. München: Beck, 1982, S. 401-03.

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