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3. Normalität und Identität
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Überblick   |   1. Von der Teilung zur Einheit   |   2. Die Vereinigungskrise   |   3. Normalität und Identität   |   4. Deutschland in der Welt   |   5. Der Abbau des Reformstaus   |   6. Politik im vereinten Deutschland   |   7. Übergänge: Von der Bonner zur Berliner Republik

Wenn auch unter unterschiedlichen Gesichtspunkten, war nach 1949 das Streben nach Normalität ein Kennzeichen beider deutscher Staaten, doch gerade die Zweistaatlichkeit stellte dies lange Zeit ebenso in Frage wie die Bürde der nationalsozialistischen Vergangenheit. Der Schatten der Vergangenheit bleibt bestehen, doch bot sich mit der Wiedervereinigung eine Chance, dem Ziel einer angenommenen nationalstaatlichen Normalität näher zu kommen. Antworten auf die Frage, ob Deutschland inzwischen ein normaler Staat geworden ist, hängen nach wie vor von der Perspektive des Betrachters ab, doch nehmen die Zeichen dafür zu, dass sich das Verhältnis der Deutschen zu ihrem Staat und das der Welt zu den Deutschen heute unkomplizierter gestaltet als in der Vergangenheit (20). Aber Veränderungen sind graduell und nicht absolut; ihre Wahrnehmung ist notwendigerweise subjektiv und wird durch die Unbestimmtheit des Begriffs der Normalität erschwert.

Die turbulente Geschichte Deutschlands hatte zur Folge, dass Flaggen und nationale Feiertage oft wechselten, und Gedenkstätten von nationaler Bedeutung gibt es heute relativ wenige (21). Die Propaganda des Dritten Reiches missbrauchte Nationalismus und Patriotismus in exzessivem Maße zu ihren Zwecken. Das Zur-Schau-Stellen nationaler Symbole war denn auch im Nachkriegsdeutschland lange suspekt und Stolz auf das Vaterland wurde kaum politisch begründet. Heute rangiert Stolz auf das politische System gleichberechtigt neben Wissenschaft, Kultur und Wirtschaft, den nationalen Eigenschaften und Sozialgesetzgebung. Die intendierte Usurpierung des Themas Nationalstolz durch eine Minderheit der radikalen Rechten wird immer häufiger untergraben. Der Übergang zu neuen Inhalten und Formen des Patriotismus wurde nicht zuletzt auch durch einen Generationswechsel erleichtert. Vor einem Jahrzehnt gehörte noch annähernd ein Drittel der Bundestagsabgeordneten der Kriegsgeneration an; in der 16. Wahlperiode (2005-2009), waren es nur noch 15 von 614 Abgeordneten.



(20) Steve Crawshaw, Ein leichteres Vaterland. Deutschlands Weg zu einem neuen Selbstverständnis . Aus dem Englischen von Hartmut Schickert (Frankfurt am Main und New York, 2005); Volker Kronenberg, Patriotismus in Deutschland. Perspektiven für eine weltoffene Nation (Wiesbaden, 2005).
(21) Peter Reichel, Schwarz-Rot-Gold. Kleine Geschichte deutscher Nationalsymbole nach 1945 (München, 2005); Etienne François und Hagen Schulze, Hg., Deutsche Erinnerungsorte (München, 2001).

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