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Überblick
Druckfassung

Überblick   |   1. Von der Teilung zur Einheit   |   2. Die Vereinigungskrise   |   3. Normalität und Identität   |   4. Deutschland in der Welt   |   5. Der Abbau des Reformstaus   |   6. Politik im vereinten Deutschland   |   7. Übergänge: Von der Bonner zur Berliner Republik

Der Zusammenbruch des Kommunismus in Mittel- und Osteuropa im Jahre 1989 und der zwei Jahre darauf folgende Zerfall der Sowjetunion stellten eine derart markante Zäsur in der Geschichte des 20. Jahrhunderts dar, dass sie von vielen auch als Zeitenwende postuliert wird. Der britische Historiker Eric J. Hobsbawm trug dem Gewicht dieser Ereignisse Rechnung, als er das 20. Jahrhundert prägnant auf die Formel des „kurzen Jahrhunderts“ brachte und es auf den Zeitraum von 1914 bis 1991 beschränkte (1). Die Zeitenwende der Jahre 1989-1991 markierte nicht nur den Niedergang des Kommunismus als alternative Herrschaftsform in Europa, sondern auch das Ende des Kalten Krieges, der kurz nach dem Zweiten Weltkrieg Deutschland, Europa, ja die Welt in feindliche Lager geteilt hatte. Die Ereignisse dieser Jahre schlugen dann auch weltweit Wellen: Demokratische Freiheitsbewegungen erhielten neuen Auftrieb und manche Beobachter verglichen die Bedeutung der Umbrüche des Jahres 1989 mit der französischen Revolution des Jahres 1789. Die Rede war vom „Zeitalter der Demokratie“ und dem Ende einer durch den Wettstreit der Ideologien geprägten Geschichte. Der Siegeszug der liberalen Demokratie war vermeintlich angetreten (2).

Doch die Euphorie war kurzlebig. Als das durch den Kalten Krieg austarierte internationale System ins Wanken kam, gesellten sich zu den bestehenden neue kriegerische Auseinandersetzungen von Jugoslawien bis Zaire hinzu. Der internationale Terrorismus nahm neue Formen an, und so manche Gesellschaften scheiterten an den Herausforderungen einer Demokratisierung. Was sich in den vergangenen Jahrzehnten als „der Westen“, einschließlich seiner Bündnissysteme NATO und Europäische Union (EU), etabliert hatte, musste und muss sich, nicht ohne Schwierigkeiten, an die neuen Gegebenheiten anpassen (3). Zehn Jahre nach den friedlichen Revolutionen, die 1989 die Welt begeisterten, wurde ihrer kaum mehr gedacht, doch ihre historische Bedeutung bleibt bestehen (4).

Als zentrale Macht im Herzen Europas kam Deutschland in diesem so genannten kurzen Jahrhundert eine Schlüsselstellung zu. Während in der ersten Hälfte auf nationaler Ebene Systembrüche vom Kaiserreich zur Weimarer Republik und schließlich zum Dritten Reich bestimmend waren, brandmarkte sich Deutschland international durch expansionistische Kriege und systematische Massenvernichtungen von Millionen Menschen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war Deutschland jenes Territorium, auf dem Beginn und Ende des Kalten Krieges ausgemacht werden konnten und das an der Frontlinie des Systemwettbewerbs eine besondere Stellung einnahm. Die Teilung Deutschlands in zwei Staaten war dafür symbolhaft. Die Implosion der kommunistischen Herrschaftssysteme in Mittel- und Osteuropa erlaubte Deutschland die Wiederherstellung eines Nationalstaates in allseits akzeptierten Nachkriegsgrenzen, ein Vorgang, der von vielen schon als illusionär abgeschrieben worden war. Zeitgleich brachte die Geschichtszäsur der Jahre 1989-1991 eine Neujustierung der internationalen Politik.

Die Wiedervereinigung Deutschlands im Oktober 1990 war zunächst von gegensätzlichen Erwartungen geprägt. Während sie für die einen alte Befürchtungen hinsichtlich deutscher Sonderwege und erneuter deutscher Dominanz in Europa heraufbeschwor, sahen andere darin eine Chance für Deutschland, als „normaler“ Staat wie andere Staaten auch in der Weltgemeinschaft anerkannt zu werden. Wie sich Deutschland entwickeln würde, wurde deshalb auch international mit Interesse verfolgt. Zunächst jedoch war das Land von den Schwierigkeiten der Vereinigung vereinnahmt. Die Übertragung der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Systeme der Bundesrepublik auf die ehemalige DDR erwies sich als schwieriger und langwieriger als erwartet und offenbarte mentale und kulturelle Reibungsflächen zwischen Ost und West. Die wirtschaftlichen Herausforderungen der Vereinigung verlangsamten den seit den achtziger Jahren eingeforderten, aber immer wieder verzögerten Umbau der deutschen Wirtschafts- und Sozialsysteme und machten ihn umso dringlicher und schwieriger (5).



(1) Eric J. Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts (München, 1995).
(2) Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte (Berlin, 1992).
(3) Gunter Hofmann, Familienbande. Die Politisierung Europas (München, 2005); Timothy Garton Ash, Free World. America, Europe, and the Surprising Future of the West (New York, 2004).
(4) Aleksander Smolar, „History and Memory: The Revolutions of 1989-1991”, Journal of Democracy 12, 3 (Juli 2001), S. 5-19.
(5) Gerhard A. Ritter, Der Preis der deutschen Einheit. Die Wiedervereinigung und die Krise des Sozialstaates (München, 2006).

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