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Überblick: Reichsgründung: Bismarcks Deutschland 1866-1890
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Überblick: Reichsgründung: Bismarcks Deutschland 1866-1890   |   1. Demographische und ökonomische Entwicklung   |   2. Gesellschaft   |   3. Kultur   |   4. Religion, Bildung, Sozialwesen   |   5. Politik I: Reichsgründung   |   6. Militär und internationale Beziehungen   |   7. Politik II: Parteien und politische Mobilisierung

Verglichen mit der revolutionären Aufregung von 1848/49 oder den Schrecken des Grabenkriegs von 1914 bis 1918 mag die Bismarckzeit eintönig erscheinen, ein Zeitalter des Gleichgewichts, in dem Konformismus und Gefügigkeit erste Bürgerpflicht waren. Zwar errang Bismarck zwischen 1866 und 1871 verblüffende militärische und diplomatische Erfolge, doch ist seine spätere Amtsperiode als Zeit der „Befestigung“ charakterisiert worden – nicht gerade ein besonders aufregender Interpretationsansatz. Doch beim Blick hinter die oberflächliche Ruhe in Bismarcks Deutschland eröffnet sich ein völlig anderes Bild – durchsetzt mit Widersprüchen, Konflikten und Krisen. Die Widersprüche resultierten aus den Versuchen, die internationalen und konstitutionellen Vereinbarungen, die zur Zeit der Reichseinigung erzielt worden waren, sowohl festzuschreiben als auch zu erweitern. Konflikte waren unvermeidlich, als die Auswirkungen rascher ökonomischer, sozialer, kultureller und politischer Veränderungen Eigendynamik entwickelten und eine junge Generation Deutscher neue Herausforderungen suchte, um den Großtaten ihrer Väter etwas Ebenbürtiges entgegenzusetzen. Krisen ergaben sich immer dann, wenn Bismarck seine Autorität in Gefahr wähnte. Wie kommen wir zu einer Einschätzung der Ursachen, Folgen und historischen Bedeutung all dieser Umwälzungen?

Eine vorläufige Hypothese, die der Leser im Hinblick auf die in diesem Band präsentierten Dokumente und Bilder durchaus überprüfen soll, lautet, dass das Deutsche Reich auf eine Weise geschaffen wurde, die Bestandteile einer modernisierenden Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur im Rahmen eines autoritären Staatswesens verankerte. Das ist freilich keine neue These. Überdies ist es leicht, allzu kategorisch die Etiketten „modern“ und „autoritär“ zu benutzen, sodass alles vor 1866 als unmodern, alles nach 1890 dagegen als ultramodern erachtet wird. Viele Grundzüge der deutschen Politik nach 1866 waren demokratischer als die anderer europäischer Staaten dieser Zeit. Umgekehrt sind traditionelle Elemente in den gesellschaftlichen Beziehungen, der Kunst und bestimmten Bereichen der industriellen Wirtschaft leicht auszumachen. Nichtsdestotrotz erlaubten der Amboss der Tradition und der Hammer der Modernität Bismarck und anderen reformorientierten Konservativen, den deutschen Autoritarismus in neue und dauerhafte Formen zu schmieden. Als Ergebnis der Entscheidungen, die in der Gründerzeit getroffen (oder umgangen) wurden, war das Deutsche Kaiserreich mit Hürden für politische Reformen belastet, und jene Hürden verschlossen oder beschränkten die Möglichkeiten, einen deutschen Faschismus im 20. Jahrhundert zu vermeiden. Trotz des Einflusses bürgerlicher Verhaltenskodizes und der raschen Ausweitung des Industriekapitalismus waren Sozialisten, Katholiken, Polen, Juden und andere Gruppen sozialer Diskriminierung oder offener Verfolgung seitens des Staates ausgesetzt. Wissenschaft und Technik wurden im Interesse der militärischen Feuerkraft, kolonialen Expansion und Beherrschung der Weltmärkte gezähmt. Die Forderungen der Frauen nach Gleichberechtigung fanden praktisch keine Resonanz. Und ein charismatischer Führer übte nahezu diktatorische Kontrolle über seine Ministerkollegen, die Parteivorsitzenden und das gesamte Staatssystem aus.


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