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8. Spannungen der Spätaufklärung
Druckfassung

1. Die Konturen des Alltagslebens   |   2. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation   |   3. Macht und Herrschaft im deutschen Territorialfürstentum: Der Ständestaat   |   4. Die Gesellschaftsordnung   |   5. Das Wirtschaftsleben   |   6. Kulturelles Leben im Anschluss an den Dreißigjährigen Krieg   |   7. Die Originalität der deutschen Aufklärung   |   8. Spannungen der Spätaufklärung   |   9. Schlußbemerkungen: Drei Geisteshaltungen des Zeitalters   |   10. Kurzbibliographie zusammenfassender Werke und allgemeiner Darstellungen zur deutschen Geschichte


Während die Beharrung feudalistisch-aristokratischer Gesellschaftsstrukturen und absolutistischer Staatsregulierung des Wirtschaftslebens – wie die Anhänger Adam Smiths behaupteten – den industriell-kommerziellen Fortschritt verlangsamt haben mag, verlief das Wirtschaftswachstum in diesem Bereich und in der Landwirtschaft im Zeitraum 1770-1806 zügig und vervielfachte die Zahl, den Reichtum und den gesellschaftspolitischen Einfluss des unternehmerischen Besitzbürgertums. Diese wichtige Gruppe orientierte sich kulturell und politisch zunehmend an den Denkern und Künstlern der Aufklärung, die den gebildeten Mittelschichten (dem zuvor erwähnten Bildungsbürgertum) eine Stimme verliehen.

Im späten 18. Jahrhundert begannen viele Angehörige beider Gruppen, darunter auch die Beamten, Veränderungen am System des „aufgeklärten Absolutismus“ zu fordern. Sie verwahrten sich gegen das Weiterbestehen sowohl rechtlich verschlüsselter als auch faktischer Adelsprivilegien, wie z.B. bei adligen Besitzmonopolen auf ländliche Herrschaftsgebiete und im bevorzugten adligen Zugang zu den höchsten militärischen, diplomatischen und höfischen Posten. Immerhin implizierte die Aufklärungsphilosophie die grundsätzliche Gleichheit aller vernünftigen Wesen, während Musik und Literatur dieser kulturellen Ära, heute als deutsche Klassik bekannt, aristokratische Anmaßung und Exklusivität hinterfragten und gleichzeitig in Andeutungen auf unbeliebte zeitgenössische Herrscher die „Tyrannen“ von ehedem an den Pranger stellten.

Nach Ausbruch der Französischen Revolution folgte Preußen Österreich beim Rückzug vom Weg der Aufklärungsreformen, weil es befürchtete, ihre egalitäre oder „gleichmachende“ Tendenz würde politische Radikalisierung und Auflehnung ermuntern. In Preußen entfachte die unter der Herrschaft Friedrichs des Großen begonnene Kodifizierung des Landrechts 1791-1794 eine Kontroverse über die Frage, ob eine solche Gesetzessammlung auf gleichsam konstitutionelle Weise den monarchischen Willen binden und einschränken könne. Die Fassung des Allgemeinen Landrechts von 1794 beseitigte mit konservativer Stoßrichtung jegliche Ansätze dieser Art. Gleichzeitig wurde es augenfällig, dass das absolutistische System nicht gut zurechtkam mit der sich in Deutschland ausbreitenden sozialen Krise, die aus dem raschen Bevölkerungswachstum resultierte (im Reich von etwa 23 Millionen Einwohnern im Jahr 1750 auf etwa 31 Millionen im Jahr 1800). Eine steigende Zahl entwurzelter und verarmter Menschen trat auf den städtischen und ländlichen Straßen in Erscheinung.

Die Verbreitung kapitalistisch organisierter Heimindustrie und früher Formen der Fabrikfertigung vervielfachten ein schlecht bezahltes Proletariat. Vor dem Hintergrund der Französischen Revolution ging unter den besitzenden Klassen die Angst vor gesetzlosen Vagabunden und der Gewaltherrschaft der Straße um. Die subtilere Reaktion des Bürgertums lautete, im Geiste von Adam Smith den Wirtschaftsliberalismus zu fordern, d.h. eine Marktwirtschaft ohne starke staatliche Regulierung und Klassenprivilegien, die unternehmerisch energischen Einzelpersonen in jeder gesellschaftlichen Stellung den Zugang erlaubte zu „Karrieren, die den Talenten offen stehen“, wie eine zeitgenössische Formulierung lautete. Die hohen Ausgaben der militaristischen Monarchie sollten gekürzt und das antiquierte System der zunftregulierten, monopolistischen Handwerksproduktion abgeschafft werden, um solche Berufe jedermann zu öffnen. Die untertänigen Dorfbewohner sollten von ihren Feudalrenten befreit und ihre Gehöfte ihnen als uneingeschränkter Besitz gegeben werden, was die adligen Grundherren zur Anpassung an eine auf Lohnarbeit und freien Märkten basierende Wirtschaft bewegen sollte.

Im Zeitalter der Französischen Revolution und Napoleons sah sich das System des Absolutismus in Deutschland zunehmend scharfer Kritik gegenüber, sowohl aus philosophisch-ideologischen als auch praktischen Gründen. Sie wurde vorwiegend von Denkern aus dem Bürgertum und Angehörigen des Adels formuliert, deren Universitätsstudien und Status als Intellektuelle sie zunehmend hin zu ihren bürgerlichen Pendants zogen. Doch in Österreich und anderen deutschen Staaten, insbesondere jedoch im Königreich Preußen, hatte das absolutistische System eine zentralisierte und militarisierte Verwaltungsmonarchie geschaffen, der eine selbstbewusste und privilegierte Elite von Beamten diente, viele aus adligem Geschlecht oder geadelt, viele bürgerlicher Herkunft, doch loyal gegenüber dem dienstherrlichen Regime. Ein solches System stellte für das Vorankommen eines auf der Aufklärung fußenden, oppositionsgesinnten, konstitutionell-parlamentarischen Liberalismus ein ernstliches Hindernis dar. Wie die Zukunft zeigen würde, begünstigte diese Gewaltenaufteilung nicht die Revolution, sondern die Reform von oben, und zwar durch Kompromisse zwischen den liberalen Mittelschichten und der militärisch-demokratischen Monarchie. Dies sollte Preußens Weg in die politische Moderne des 19. Jahrhunderts werden.

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